Fuer immer zwischen Schatten und Licht
und er sich kaum mehr rühren kann, ohne Qual zu empfinden … dann wird auch sein Wille brechen.“ Ihre Schultern strafften sich, und plötzlich klang ihre Stimme geschäftsmäßig. „Wir geben ihm noch eine Weile Bedenkzeit, doch wenn wir den Eindruck haben, dass seine Schwäche weit genug fortgeschritten ist, werden wir ihm persönlich einen Besuch abstatten. Er wird dann vor die Wahl gestellt, uns zu folgen oder für immer in dem jämmerlichen Zustand zu verbleiben, den das menschliche Leben in manchen Fällen nun mal mit sich bringt.“
Stumm schob ich die Hände hinter meinen Rücken, damit die Richterin nicht bemerkte, wie sehr sie zitterten. Es nützte allerdings nicht viel – das Beben lief in immer wiederkehrenden Schauern durch meinen ganzen Körper, wie Schluchzer, die nicht herauskonnten. Sekunde um Sekunde dehnte sich die Stille weiter aus, und jeder normale Mensch hätte bereits etwas gesagt, um das Warten auf eine Antwort zu beenden. Die Richterin sah mich jedoch nur geduldig an, bis ich mir wieder zutraute, zu sprechen.
„Warum könnt ihr ihn nicht einfach in Frieden lassen? Ich verstehe nicht, wieso ihr einen solchen Aufwand betreibt, nur um ihn zurückzugewinnen. Ihr habt doch genug andere Wächter!“
„Aber keinen wie ihn“, entgegnete sie. „Die Lichtwesen vertrauen Raziel mehr als jedem anderen, er gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Und darauf waren wir schon lange nicht mehr so sehr angewiesen wie jetzt.“ Zum ersten Mal verschwand ihr herablassendes Lächeln, und ihre Miene wurde finster. „Etwas liegt in der Luft, wie eine dunkle Ahnung, wir können es alle fühlen. Es ist, als wären uns die Schatten näher gerückt. Wer weiß, welche Pläne sie dort unten schmieden, oder woher dieser unerwartete Machtanstieg in der Schattenwelt kommt … vielleicht täuscht uns ja unsere Intuition. Aber es wird nun zunehmend schwieriger, für Ruhe unter den Lichtwesen zu sorgen, und wir haben Raziels Fähigkeiten bitter nötig.“
Sie machte eine kurze Pause, während sie mich weiterhin prüfend anschaute. Starr erwiderte ich ihren Blick und betete, dass mich mein Gesichtsausdruck nicht verriet. Dabei hämmerte mein Herz so stark, dass ich das Pulsieren hinter meinen Schläfen fühlen konnte. Wenn ich jetzt erkennen ließ, dass ich den Grund für die Unruhen kannte, wäre alles vorbei. Niemals würde sich die Richterin dann noch damit begnügen, Rasmus ein Ultimatum zu stellen – nicht, wenn sie von der Existenz eines Abaddons erfuhr, der bereits zweimal die Grenzen zwischen der irdischen und der Schattenwelt durchbrochen hatte. Rasmus würde gewaltsam in seine alte Heimat gebracht werden, er würde erneut als Wächter die Tore des Lichts beschützen, und ich würde ihn niemals wiedersehen.
Zu meiner Erleichterung redete die Richterin aber einfach weiter: „Wir sind äußerst zuversichtlich, was unsere Bestrebungen anbelangt. Bisher konnten wir noch jeden wankelmütigen Engel auf den rechten Weg zurückführen!“
„Fast jeden“, murmelte der Mann an ihrer Seite, doch sie sah ihn so eisig an, dass er gleich wieder verstummte.
„Genug davon“, sagte sie mit einer neuen Schärfe in der Stimme. „Wir haben uns schon zu lange mit Erklärungen aufgehalten. Es wird Zeit, dass wir den Gefallenen suchen, der dich hierher gebracht hat, und für ihn eine Verhandlung einberufen. Wenn du mir verrätst, wer dein Lebensretter war, kannst du bald wieder die Gesellschaft deines Liebsten genießen.“
So lange du ihn noch hast , schien in dem Satz mitzuschwingen. Mein Wunsch, ihr die farblosen Augen auszukratzen, wurde immer stärker. „Ich habe keine Ahnung, wer das war“, behauptete ich und hob das Kinn. „Irgendwie fällt mir auch gar nicht mehr ein, wie er überhaupt ausgesehen hat.“
Es bereitete mir Genugtuung, dass ihre Brauen vor Überraschung nach oben rutschten – endlich eine Emotion, die sie nicht beherrschen konnte, wie ein Riss in einer perfekten Maske.
„Ganz, wie du willst“, meinte sie, doch ebenso gut hätte sie „Dann werde ich dich nun verspeisen“ sagen können. Sie ähnelte nun eindeutig einer hungrigen Boa constrictor. „Du kannst dich gerne so lange widersetzen, wie es dir beliebt. Wenn wir hier etwas wirklich im Überfluss haben, dann ist das Zeit. Ich darf dich allerdings daran erinnern, dass der Zeitverlauf in der Lichtwelt mit dem in der irdischen Welt nicht viel gemeinsam hat. Die Berührungspunkte liegen weit auseinander und sind völlig unberechenbar.
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