Für jede Lösung ein Problem
viel Kinderschokolade essen durfte, wie sie wollte, und deshalb keine Probleme hatte, mir welche abzugeben.
»Ihr werdet es mir noch mal danken«, sagte meine Mutter immer, wenn wir uns beschwerten, dass das einzig Süße, das wir am Tag bekamen, die Rosinen im Müsli waren. Soviel ich weiß, hat sich bis heute noch niemand von uns bei ihr bedankt.
Lulu litt von uns allen am meisten unter dem akuten Schokoladendefizit, und sie suchte überall nach Ralf. Sie bot mir sogar an, in ihrem Tagebuch zu lesen, wenn ich ihn freiwillig rausrückte. Aber ich stand zu Ralf.
Nach ein paar Tagen fand Lulu ihn schließlich im Schuhkarton oben auf dem Kleiderschrank, wo ich ihn unter einer Lage Barbiekleider in Sicherheit gewähnt hatte. Ich stimmte ein mörderisches Gebrüll an, als ich nach Hause kam und sah, dass nur noch das Glöckchen von Ralf übrig war.
Lulu wurde mit zwei Tagen Stubenarrest bestraft und musste sich bei mir entschuldigen.
»Tut mir leid, dass ich ihn gegessen habe«, sagte sie und tupfte sich einen Schokoladenrest aus dem Mundwinkel »Aber er hätte doch sowieso bald zu schimmeln angefangen.«
Ich heulte.
Lulu wurde gezwungen, mir den materiellen Gegenwert von Ralf von ihrem Taschengeld zu erstatten. Sie legte widerwillig zwei Münzen auf meinen Nachttisch.
»So, und jetzt kannst du aufhören, so einen Krach zu machen«, sagte meine Mutter zu mir. »Es ist alles wieder gut.«
Aber das war es natürlich nicht, denn ich war ja, wie ich heuteweiß, neurotisch depressiv veranlagt. Laut den Informationen aus dem Internet hätte meine Mutter meine Konfliktsituation nachvollziehen und verstehen müssen. Das tat sie aber nicht.
»Warum heulst du denn immer noch?«, fragte sie.
»Weil ich meinen Ralf wiederhaben will«, schluchzte ich.
Lulu sagte: »Ich könnte mir ja den Finger in den Hals stecken, dann kommt er zurück«, und da lachten alle, außer mir.
»Es war doch nur ein blöder Schokoladenhase«, sagte meine Mutter. »Jetzt hör schon auf zu weinen. Sieh mal, draußen scheint so schön die Sonne.«
Aber ich war einfach nicht in der Lage, der Situation etwas Positives abzugewinnen.
Nach einer Weile verlor meine Mutter dann vollends die Geduld. »Schämst du dich denn gar nicht, wegen eines Schokoladenhasen so ein Theater zu veranstalten? In Afrika verhungern Kinder, die wissen nicht mal, wie Schokolade schmeckt . Wenn du jetzt nicht sofort mit dem Geheule aufhörst, bekommst du auch Stubenarrest.«
Wäre ich in einem anderen Sternzeichen geboren, hätte ich vermutlich damals schon an Selbstmord gedacht.
Stattdessen hatte ich das Problem sachlich analysiert. Ich erkannte messerscharf, dass ich hier ein unlösbares Problem vor mir hatte: Ich wollte Ralf wiederhaben, aber Ralf war unwiederbringlich verschwunden. Selbst wenn ich (wir hatten Mitte Mai) einen Osterhasen gleicher Machart hätte auftreiben können, wäre dieser Osterhase nicht Ralf gewesen.
Das bisschen Geld und Lulus Stubenarrest reichten nicht annähernd aus, um meine Verlustgefühle wettzumachen. Zu allem Überfluss war meine Mutter gemein zu mir gewesen, obwohl ich ja ganz klar das Opfer und nicht der Täter gewesen war.
Weil ich erst acht Jahre alt war, fiel mir überhaupt nur eine einzige Sache ein, die ich tun konnte, und wegen der hatte ich heute noch ein schlechtes Gewissen.
Liebe Lulu!
Weißt du noch, als du in der vierten Klasse warst und morgens als Bart Simpson aufgewacht bist? Du dachtest all die Jahre, es sei Rika gewesen, die dir den Stoppelpony verpasst hat, nicht wahr? Und Rika glaubt bis heute, sie habe geschlafwandelt. Hat sie aber nicht. Ich war’s, und hellwach! Ich wollte, dass du auf dem Schulfoto bescheuert aussiehst. Und das tatest du ja auch. Du hattest diese Frisur verdient, du weißt selber, was du mit Ralf (dem Schokoladenosterhasen) gemacht hast und wie traurig ich deswegen war. Nur weil ich ein paar Wochen mit meiner Rache gewartet habe, war mein Groll in dieser Zeit nicht geringer geworden. Aber offenbar hattet ihr die Sache schon wieder vollkommen vergessen, sonst wäre doch wenigstens der Schatten eines Verdachts auf mich gefallen. Da kann man mal wieder sehen, wie wenig in dieser Familie von jeher über mein Befinden nachgedacht wurde.
Na ja, mir tut das Ganze jedenfalls heute wirklich leid. Ich hatte nicht ahnen können, was für eine Kettenreaktion ich damit in Gang setzen würde. Als Erstes bekam Rika in der darauffolgenden Nacht ebenfalls eine Bart-Simpson-Frisur, dafür hat sie dir dann
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