Für jede Lösung ein Problem
Naidoo den dornigen Weg, den er beschritt, und ich runzelte ärgerlich die Stirn. Dieser Kerl durfte sich ruhig mal eine Scheibe von der tapferen Lea abschneiden: Deren Weg war wirklich dornig, aber sie jammerte kein bisschen darüber! Ihr wäre es auch nie eingefallen, andere Leute mit monotonen Gesängen zu belästigen.
Hilla, die ein Stockwerk tiefer wohnte, brauchte Xavier Naidoo, um den Abwasch zu bewältigen, sie hatte keine Spülmaschine, aber vier Kinder, da konnte einem der Abwasch durchaus wie ein dorniger Weg vorkommen.
Ich für meinen Teil konnte mir keine Tätigkeit vorstellen, die mir mit dieser Begleitmusik leichter von der Hand ginge, weshalb ichmir auch immer, wenn Hilla abwusch, die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren schob und ein Alternativprogramm hörte. Aber bevor ich das diesmal tun konnte, klingelte erneut das Telefon.
Ich zögerte, den Hörer abzuheben. Was, wenn das wieder Charly war und mich mit ihren Freudenbotschaften zum Heulen brachte? Gerade jetzt, wo ich mühsam mein inneres Gleichgewicht wiedergewonnen hatte.
Es war aber nicht Charly, sondern Lakritze, meine Lektorin vom Aurora-Verlag.
»Das ist ja ein Zufall«, sagte ich. »Gerade sitze ich am Exposé zu Leas Weg . Wenn ich es heute noch einwerfe, ist es morgen bei Ihnen.«
»Bringen Sie das Exposé doch morgen einfach persönlich vorbei, dann können wir direkt darüber reden«, sagte Lakritze.
Ich dachte, ich hätte mich verhört, deshalb machte ich »Hä?«.
»Ich möchte Sie bei der Gelegenheit auch gleich mit dem neuen Cheflektor bekannt machen«, fuhr Lakritze unbeirrt fort. »Passt es Ihnen gegen elf Uhr vormittags?«
Lakritze hieß eigentlich Gabriela Krietze und war für die Norina-Reihe zuständig. Ich hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen. Meistens verkehrten wir per E-Mail miteinander, und ab und zu telefonierten wir auch. Die Verträge bekam ich per Post zugeschickt und schickte sie auf demselben Weg zurück, ebenso wie meine Manuskripte. Niemand beim Aurora-Verlag hatte mich jemals persönlich kennen lernen wollen.
»Gerri? Sind Sie noch dran?«, fragte Lakritze.
»Ja«, sagte ich. »Ich soll also morgen in den Verlag kommen?«
»Das macht doch keine Umstände, oder?«, fragte Lakritze. »Sie wohnen doch ganz in der Nähe.«
»Ja, sozusagen um die Ecke.« Aurora und ich, wir wohnten in derselben Stadt, ich in der hellhörigen Ein-Zimmer-Dachwohnung meines Onkels, der Verlag in einem repräsentativen vierstöckigen Gebäude auf der anderen Seite des Rheins.
»Dann also bis morgen«, sagte Lakritze und legte auf, bevor ich weitere Fragen stellen konnte.
Was hatte das zu bedeuten? Warum sollte ich das Exposé auf einmal persönlich vorbeibringen? Seit zehn Jahren lieferte ich pünktlich wie ein Uhrwerk meine Romane ab, und offensichtlich war man mit meiner Arbeit zufrieden. Möglicherweise klingt es unbescheiden, aber ich wusste, dass ich gut war. Noch nie war ein Exposé von mir abgelehnt worden, nur einmal musste ich meiner Protagonistin die namibische Mutter wegnehmen und gegen eine irische umtauschen, sodass aus dem milchkaffeebraunen ein sommersprossiger Teint wurde. Aber das regelten wir alles komplikationslos per E-Mail.
Warum zum Teufel also wollten die von Aurora das Procedere plötzlich ändern und mich kennen lernen? Während ich das Exposé ausdruckte, stellte ich zwei Theorien auf: Erstens: Man wollte mir aufgrund meines zehnjährigen Dienstjubiläums eine Honorarerhöhung anbieten. Oder eine Ehrennadel mit dem Aurora-Logo. Oder beides. Zweitens: Das Finanzamt hatte eine Steuerprüfung gemacht und dabei festgestellt, dass ich niemals ein Arbeitsessen mit G. Krietze, Lektorin hatte und dieses ergo auch nicht dreimal im Jahr von der Steuer absetzen konnte. Vielleicht wartete morgen bereits jemand von der Steuerfahndung in Lakritzes Büro, um mich in Handschellen abzuführen.
Letzteres erschien mir allerdings ziemlich unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher war, dass sich meine harte Arbeit ausgezahlt hatte. Der Druck, der sich seit Charlys Anruf wie ein Ring um meine Brust gelegt hatte und mich am Atmen hinderte, lockerte sich deutlich. Fürs Erste beschloss ich, weder neurotisch noch depressiv zu sein, sondern nur eine schlechte Phase zu haben, privat gesehen. Beruflich hingegen ging es offensichtlich aufwärts. Am besten würde ich mich einfach eine Zeit lang auf den Job konzentrieren, darauf konnte man sich wenigstens verlassen.
Mir ging es schon viel besser.
Ich schaffte es sogar,
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