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Fummelbunker

Fummelbunker

Titel: Fummelbunker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonja Ullrich
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100-jähriger Bau, geviertelt und aufgeteilt wie Omas Streuselkuchen mit eigenem Tellerrand in Form von Hof und Garten, der so weit reichte wie der Kuchen hoch war. Der Rasen vor dem Haus war an exponierten Stellen kahl oder gelb, je nachdem, ob eine Platane den Bereich überschattete oder eine Katze das Gebiet exzessiv bewässerte. Die Hausfassade war in der unteren Hälfte geziegelt, der Putz darauf erinnerte an nass geregneten Sandstein. Mein Bruder und ich sind hier aufgewachsen und mich erfüllte jedes Mal das unerquickliche Gefühl von Nostalgie, wenn ich hierhin zurückkehrte. Seit meinem Auszug 94 hatte sich hier nichts verändert. Selbst die kleine Elektroheizung stand noch im Bad: Sie war kaum größer als zwei gestapelte Toaster und fraß so viel Strom, dass man sie bei laufender Waschmaschine nicht aufdrehen durfte, weil sonst die Sicherung durchknallte.
    Ich parkte den Twingo im gerahmten Rechteck auf der Straße, kurbelte die Seitenfenster hoch und hievte meinen Hintern aus dem Wagen. Betont leise ließ ich das Gartentor über die Steine rollen, doch es half nichts. Mit einem spitzen Schrei kamen meine Nichten bereits angefegt. Melissa, die Fünfjährige und Ältere, hing mir zuerst am Bein. Ihr schulterlanges Haar war in ihrem Nacken zu einem Zopf gebunden, ihr Pony mit unzähligen bunten Haarspangen am Ansatz festgeklemmt.
    »Ey, Tante, hast du uns was mitgebracht?«, fragte sie sofort.
    Rabiat zerrte wenige Sekunden später die Jüngere, Vanessa, an meinen Klamotten. Sie hatte ein dunkel umrandetes Engelsgesicht mit großen blauen Augen, Püppchenwangen und einer Zahnlücke. Wenn sie lachte, lockte sie spendable Omas und Opas im Umkreis von 500 Metern an. Sollte ihr allerdings ein Wunsch versagt bleiben, mutierte die Brummsuse zu einem zähnefletschenden Terrier. Sie war erst drei, doch ihre Trotzwut, insbesondere ihr rechter Haken, entsagte jeder uneingeschränkten Altersfreigabe. Schnell fischte ich zwei Tüten Gummibärchen aus meiner Handtasche und ließ sie beidhändig über ihren Köpfen baumeln. Wie zwei ausgehungerte Frettchen rissen sie mir den Süßkram aus den Händen und flüchteten damit ins Dickicht hinter der Gartenlaube. Die Erfüllung anderer Pflichten, denen ich als Tante nachgehen müsste, wurde augenscheinlich von mir nicht erwartet.
    Ich ging ein paar Schritte über den Hof, als mir Olaf entgegenkam. Mühselig stieg er die fünf Steintreppen vor der Haustür hinunter und schleppte sich vorwärts. Er sah ziemlich erschöpft aus.
    »Was ist denn mit dir los?«, fragte ich.
    »Heuschnupfen.«
    Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Nase rot und geschwollen. Schultern und Kopf erlagen der Schwerkraft, sodass er Mühe hatte, meinen Blick zu erwidern.
    »So schlimm?«
    »Du hast ja keine Ahnung.« Olaf holte ein zerfleddertes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Als er tief einatmete, um hineinzuschnäuzen, machte ich einen Sprung zur Seite. Die Rotzfahne schlotterte zwischen seinen Fingern. Er stopfte sie zurück in die Hose und strich sich mit der flachen Hand über den Kopf, als wollte er fliegende Strähnen bändigen. Dabei war sein dunkles Haar nicht einmal lang genug, um überhaupt in irgendeine Richtung zu fallen. Dann trat ich ihm wieder vor die Linse. Er war mir noch etwas schuldig.
    »Und? Hast du etwas für mich?«
    Olaf nickte angestrengt und kehrte mir den Rücken zu. Ich folgte ihm aufgeregt, während er zurück ins Haus ging. Mein Blick flog noch einmal über den Garten, doch die Mädchen schienen wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich warfen sie sich gerade gegenseitig die Gummibärchen in den Rachen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Womöglich hatte ich es mit den beiden Haribo-Tüten zu gut gemeint, doch ich wollte meinen angeschlagenen Bruder mit solchen Lappalien nicht belasten.
    Olaf führte mich in die Küche. Das war Tradition, denn das Leben der Roloffs spielte sich seit 40 Jahren in der Küche ab. Im Sommer war es der hellste Raum des Hauses sowie bester Aussichtspunkt, um die Kinder durch die undichten Fenster im Auge zu behalten. Im Winter hingegen lief der Kohleherd auf vollen Touren und es gab immer mindestens einen Roloff, der seinen Hintern gegen die weiße Blechkarosserie des Ofens drückte, dessen Abluft durch die Schächte zog, um das ganze Haus zu beheizen.
    Olafs Rucksack hing an der Türklinke. Mutti saß auf ihrem Lieblingsstuhl und quarzte. Ihre blassen Beine, die die Farbe gar gekochter Garnelenschwänze hatten, hatte sie

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