Fummelbunker
Absicht entfernt, den Streit zu schlichten. Zwar hatte sie Erfahrung darin, Kloppereien zwischen Teenagern zu unterbinden. Doch diese reichte nicht annähernd aus, um es mit einem aggressiven 29-Jährigen mit ausgebildeten Bizeps und Möchtegern-Schlagstock aufzunehmen. Zeugen zufolge agierten die Streithähne gemeinschaftlich, fixierten die Polizistin und rissen ihr den Schutzhelm vom Kopf, den sie sich wegen wundgescheuerter Kieferknochen nicht festgeschnallt hatte. Wer ihr den verheerenden Schlag gegen die Stirn versetzt hatte, konnte von keinem Zeugen eindeutig aufgeklärt werden, doch wenige Auserlesene wollten Julias Schlagstock in der Hand des Türken gesehen haben. Die jungen Männer flohen, Gaffer eilten zu Hilfe und zahllose Anrufe gingen bei der Polizei, dem Rettungsdienst und der Feuerwehr ein, obwohl ihre Kollegen nur einen Steinwurf entfernt und ineinander verkeilt ein paar Pöbel in Schach hielten. Die vermeintlichen Täter wurden einige Stunden später gestellt. Julia fiel unterdessen in ein Wachkoma.
Ich fand einen Entwurfsbericht über die Verhandlung der drei Verdächtigen, die einige Monate später angesetzt wurde. Die Männer Karim T., Christoph R. und Michael N. wurden der schweren Körperverletzung sowie Beihilfe zur Körperverletzung beschuldigt. Der Entwurf, den ich las, war lückenhaft und bestand vornehmlich aus Randnotizen. Demnach wurde der Prozess mit dem Vorwurf umstrittener Verhörmethoden, die angeblich bei Karim T. während des Polizeigewahrsams angewendet wurden, eröffnet. Der Schreiberling des Rapports mit dem Kürzel ›chp‹ ging sogar noch weiter und spekulierte darauf, dass der Prozess wegen der ausländerfeindlichen und gewalttätigen Neigungen eines einzelnen Polizisten zu platzen drohte.
Der übrige Inhalt entsprach in etwa dem, was ich im Internet zu lesen bekam: Karim T., Christoph R. und Michael N. wurden dem Haftrichter vorgeführt, welcher trotz der Schwere des Verbrechens keine Veranlassung sah, die jungen Schläger in U-Haft zu nehmen. Als Begründung nannte er fehlende Flucht- und Verdunkelungsgefahr. Also wurden sie erst einmal auf freien Fuß gesetzt. Daneben erkannte ich Olafs Handschrift: Gregor wurde in der Zwischenzeit vom Dienst suspendiert. Weil er Karim nötigte, weil er befangen war und weil er als Beamter des PP Dortmund überhaupt nicht die Befugnis gehabt hatte, im PP Bochum Untersuchungen anzustellen.
PP Dortmund, dachte ich. Das war wohl Gregors Karriere beim MEK, die da durchschimmerte.
Chronologisch gesehen war dann zunächst Zapfenstreich und es ging erst Monate später mit einem Hintergrunddossier über die Verhandlung von Gregor P. weiter: Demnach stellte Gregor Karim nach dessen Entlassung auf offener Straße nach. Es kam zu einem handfesten Streit und Gregor stach Karim mit dessen eigenem Messer in den Bauch. Der Türke starb zwei Stunden später im Krankenhaus und Gregor wurde dem Haftrichter vorgeführt. Seine Strafverteidigung plädierte auf Notwehr mit der Begründung, dass es Karims Messer war und er Gregor damit bedroht habe. Die Staatsanwaltschaft allerdings warf Gregor vor, er hätte mit seinen Ju-Jutsu-Fähigkeiten den Angriff lediglich abwehren und nicht selbst zustechen dürfen. Also wurde er wegen Totschlags angeklagt und verurteilt, Gregor bekam sieben Jahre und wurde nach fünf Jahren entlassen. Vom MEK war in den ganzen Dokumenten nicht die Rede und ich fragte mich, woher Olaf davon wusste.
Nach diesem Rapport kam nichts mehr. Julia starb nach jahrelangem Wachkoma im gleichen Zeitraum, in dem Gregor aus der Haft entlassen wurde; zwei Monate vor ihrem 32. Geburtstag.
Übersättigt warf ich das Papier auf den Tisch. Ich nahm einen tiefen Atemzug und rubbelte mir mit den Handflächen das Gesicht rot, die Augen zusammengekniffen. Mir war, als wäre ich sehr viel tiefer in meinem Sofa versackt. Ich rief Olaf auf dem Handy an.
»Harter Tobak, was?«, sagte er sofort. Seine Stimme klang nasal.
»Du hast ja keine Ahnung«, erwiderte ich.
»Ich wusste von Anfang an, dass der Typ Dreck am Stecken hat.«
»Er hat sich geändert«, verteidigte ich ihn. »Er hat mir das Leben gerettet.«
Olaf rotzte weitab vom Hörer, hoffentlich in irgendein Taschentuch. »So wie ich dich damals verstanden habe, war dieser Typ überhaupt erst schuld daran, dass dieser Killer bei dir zu Hause auflief.«
Dieser Killer hieß Bolker und hatte die Aufgabe gehabt, Gregor und mich zum Schweigen zu bringen. Und tragischerweise war es Gregor selbst
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