Fummelbunker
übereinandergeschlagen. Ihre kantigen Zehen lugten aus den offenen Hausschlappen heraus.
»Joachim ist tot«, sagte sie, ohne uns anzusehen, und blies den Qualm senkrecht in ihre Dauerwelle, die seit drei Wochen bioblond war, wie ihr Friseur es nannte. Graue Striche prangten wie verdreckte Spurstreifen einer Autobahn auf ihren Lidern, die Farbbrocken auf ihren Lippen waren wahrscheinlich noch von gestern. Sie ließ die Mundwinkel hängen und stellte damit ihre Mundfalten unansehnlich ins Rampenlicht. Mutti war alt, 70, fünf Jahre älter als Paps. Als gute Tochter hätte ich ihr die Falten schönreden müssen. Aber in solchen Sachen war ich Egozentrikerin. Ich dachte an mich; und an die Falten, die bei mir noch kommen mögen.
»Wer ist Joachim?«, fragte ich.
»Mein Bruder.«
Ich schüttelte fragend den Kopf.
»Na, Onkel Rosi«, half sie nach.
»Der Dicke aus Recklinghausen?«, fragte ich.
Mutti rollte mit den Augen. »Nein. Der Lulatsch aus Oer-Erkenschwick.«
Ich dachte angestrengt nach, kam aber zu dem Schluss, dass ich noch nie in Oer-Erkenschwick gewesen war. »Kenn ich nicht.«
Diesmal war sie es, die mit dem Kopf schüttelte. »Aber klar kennst du den. Onkel Rosi mit dem Appelbaum, von dem du immer heruntergefallen bist, wenn wir ihn besucht haben.«
»Ich bin noch nie von irgendeinem Baum gefallen!«, erboste ich mich.
»Blödsinn!« Sie setzte sich auf. »Natürlich bist du das. Was meinst du, warum unser Flieder so mickrig ist? Bist immer raufgekraxelt und – zack – ist ein Ast abgebrochen. Noch einer. Und du lagst auf dem Rasen. Mann.« Sie schob sich die Fluppe zwischen die Lippen. »Der schöne Flieder.«
Ich schnappte nach Luft. »Ich bin nie unseren Flieder hoch! Das war Anna-Jacqueline, die Tochter vom Stacho.«
Mutti runzelte die Stirn. Qualm trieb langsam aus ihren Mundwinkeln. »Wer ist Stacho?«
»Papas Kumpel von der Zeche. Fuhr nichts außer Volkswagen. Und Anna-Jacqueline war eine lange, blonde Achtjährige mit einer Hakennase. Kam immer unangemeldet zu uns rein, weil es bei denen nichts zu essen gab. Das sagte zumindest Paps. Ein Spinnewipp war sie.«
Mutti überlegte kurz. Dann legte sie ihr Kinn an und den Hals in Falten. »Welch normaler Mensch nennt seinen Jungen bloß Stacho?«
Olaf tippelte ungeduldig hinter mir. Er schritt ein: »Das ist nur ein Spitzname, Mutti. Nicht anders als ›Onkel Rosi‹.«
»Und wie heißt der bürgerlich?«
Ich hatte keine Ahnung und sah Olaf an. Aber auch der zuckte nur mit den Schultern.
Mutti bohrte munter weiter: »War der im Krieg?«
»Nein, so alt ist der nicht«, gab Olaf Auskunft. »Warum?«
»Klingt irgendwie russisch«, sagte sie. »Wie so ein Russe aus dem Weltkrieg, der es sich hier heimelig gemacht hat, nachdem er gemerkt hat, dass es bei uns auch Bananen gibt. Bestimmt heißt der Stanislaus oder Stacholski. Oder beides.« Sie setzte wieder die Kippe an.
Ich war mir sicher, dass Stacho kein Russe war. Stacho hasste Alkohol, wählte treu Die Grünen und war Vater einer Tochter, die auf den Namen Anna-Jacqueline hörte. Er hatte noch einen Sohn, Rudolf Franz, benannt nach dem Kronprinzen Rudolf von Österreich-Ungarn. Stachos Frau war ein pulsierender Sisi-Fan. Warum Anna-Jacqueline nicht Elisabeth oder Sisi hieß, entzog sich meiner Kenntnis, was mich allerdings nicht im Geringsten störte. Im Gegensatz zu meiner Ahnungslosigkeit, was Onkel Joachim betraf. »Und wo kommt der Spitzname ›Rosi‹ her?«, fragte ich.
Meine Mutter guckte ungläubig zu mir hoch. »Na, wegen der Rosenhecke von unserer Mämken. Wollte Fahrradfahren lernen, der Joachim, und ist immer in die Rosenhecke gebremst. Der sah aus, sag ich dir.« Sie lachte. »Mann, der Joachim. Das war mir einer.«
»Und was ist mit ihm passiert?«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Sollte aus dem Krankenhaus entlassen werden. Hatte eine Spritze gekriegt und ist kurze Zeit später auf dem Klo tot umgefallen. Margot wollte ihn nicht aufschneiden lassen, um nachzugucken, was mit ihm los war. Er hat am Ende ganz schön dünn ausgesehen.« Sie zog an ihrer HB. »Die hätten es machen sollen. Ich bin auch so dünn geworden in letzter Zeit. Wer weiß, vielleicht hab ich ja das Gleiche und falle auch irgendwann tot vom Klo.«
Wir taten so, als hätten wir nicht zugehört und nahmen den Faden unseres letzten Gesprächs wieder auf. Olaf reichte mir einen Stapel Papiere. »Das ist alles, was ich im Archiv finden konnte. Es wurde nicht viel darüber geschrieben. Wahrscheinlich
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