Funkensommer
Jelly dreht mir ihren Rücken zu. »Eigentlich dachte ich, dass Tobias das übernehmen würde. Aber selbst schuld, wenn diese Affen zu spät kommen! Wo bleiben die eigentlich?«
Ja, wo blieben sie? Noch einmal lasse ich meinen Blick über den See streifen. An der Südseite beginnt sich langsam die Liegewiese zu füllen. Familien mit Kindern und aufblasbaren Rennautos, Ponys und Delfinen. Pärchen, die in der Nähe des Schilfgürtels ein Versteck suchen. Pensionisten mit Akkuradios, die leise dudeln und ab und zu Fetzen von Blasmusik über den See schweben lassen. Aber von Finns bestem Freund Tobias und vor allem von Finn – keine Spur. Ein leises Seufzen kommt mir über die Lippen.
»Na gut, dann spraye ich mich halt selber ein«, sagt Jelly neben mir schnippisch.
Ich gucke sie irritiert an, dann begreife ich, dass sie mein Seufzen auf das Einsprühen bezogen hat. »Klar sprühe ich dich ein«, sage ich schnell. »Gib schon her dein Kokosnusswunderbräunungszeugs.« Ich schnappe mir die Flasche und spraye ihren Rücken damit ein. Um sie versöhnlich zu stimmen, sage ich: »Erzähl, wie war es gestern sonst noch so?«
Jelly kichert. »Ach, es interessiert dich also doch? Und ich dachte schon, du bist krank oder so.« Und dann fängt Jelly zu erzählen an. Von der coolen Band, die in dem kleinen Zelt neben dem großen gespielt hat, und von der Motorradgang, die aus dem Nachbardorf angerollt ist. Von Goldlöckchen alias Lena, die zur amtierenden Maisprinzessin gewählt wurde (auch kein Wunder, immerhin ist ihr Vater der Bürgermeister). Vom riesigen Sonnwendfeuer, das gebrannt hat wie Zunder. Von Raphael und seinen Freunden Sebi und Manuel, die gesoffen haben wie die Stiere, weil sie ihre bestandene Führerscheinprüfung gefeiert haben. Und natürlich von Tobias. Und Finn.
Als ich fertig mit Einsprühen bin, nimmt sie mich ins Visier. »Also, Hannah«, fragt sie. »Was ist denn nun wirklich zwischen euch?« Ihre linke Augenbraue beginnt in Richtung Haaransatz zu wandern. Das tut sie immer, wenn Jelly auf eine heiße Spur gestoßen ist. Dafür scheint sie eine Begabung zu haben. Und obwohl ich meine Freundin schon lange kenne, kann ich ihr einfach nicht sagen, was da läuft. Ich mag Jellena. Wirklich! Sie ist schon immer meine Freundin gewesen. Seit dem Kindergarten. Obwohl sie so anders ist als ich. Aber ich glaube, das ist auch der Grund, warum wir uns so super verstehen.
Ihre Mutter hat den Friseursalon im Dorf. Jellys Vater lebt schon lange nicht mehr hier. Der ist irgendwann abgehauen, als Jelly noch klein war. Nachdem der Krieg zu Ende war, ist er wieder zurück nach Bosnien, ohne die beiden mitgenommen zu haben. Das war schon ziemlich gemein von ihm! Aber Jellena kommt eigentlich super damit zurecht. Das hat sie schon früh gelernt oder einfach in die Wiege gelegt bekommen. Das Alleine-klar-kommen-Gen.
Und ich …? Meine Eltern haben den Bauernhof. Da gibt es immer Arbeit. Meist schmutzige. Dementsprechend läuft man den ganzen Tag dreckig herum. Und zum Fragen hat man nie viel Zeit. Man macht einfach. Man muss einfach. Das habe ich auch schon früh gelernt. Oder es ist mir auch in die Wiege gelegt worden. Das Man-muss-einfach-machen-Gen.
Aber obwohl ich Jellena schon ewig kenne, kann ich ihr einfach nicht sagen, was mit Finn läuft. Ich weiß es doch selbst nicht. Und wer weiß, was los ist, wenn es jeder hier im Dorf erfährt. Jeder. Auch meine Eltern. Und vor allem Raphael! Daran will ich gar nicht denken. Wenn der rauskriegt, dass ich mit dem Sohn seines Chefs …! Der macht mich fertig. Er ist ja auch so kaum noch auszuhalten, seitdem er letztes Jahr diesen Anfall hatte.
Deshalb springe ich auf und sage: »Ich weiß nicht, was du meinst!« und düse in Richtung Wasser ab. »Kommst du mit?«
Jelly sieht mir empört nach. »Dann eben nicht.« Schlendernd folgt sie mir in Richtung See. »Nur damit du es weißt«, schnaubt sie, als sie neben mir zum Stehen kommt, »ich springe nicht von diesem Selbstmörderplatz. Verstanden?« Ihr Kopf nickt in Richtung Felsen.
Ein Spiegelbild beginnt sich vor unseren Füßen auf dem Wasser auszubreiten.
Jelly und ich. Beide gleich groß. Die eine schlank, die andere dürr.
Die eine braun, die andere blass. Die eine hat einen rosa Bikini an. Die andere einen braunen. Die eine hat lange, blonde Haare. Die andere hat ihre mausbraunen zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Der Pony hängt ihr tief ins Gesicht. So stehen wir. Und das schwarze Wasser schlägt
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