Gabriel oder das Versprechen
nicht erwehren. Das
war Teil seiner Buße, die ihn durch sein ganzes Leben schon
begleitet hatte. Also ergab er sich voller Demut in sein Schicksal.
Er legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und hoffte, dass
das schrecklichste Erlebnis seiner Jugend möglichst schnell an ihm
vorüberzöge.
*
Mit aller Kraft presste er Maria
seine Hände auf Mund und Nase. Sie rang nach Luft, stierte ihn mit
weit aufgerissenen Augen an, strampelte mit den Beinen wild in der
Luft herum, packte gleichzeitig seine Handgelenke und versuchte
seine Hände wegzureißen. Doch unerbittlich drückte er nur noch
fester zu. In einem letzten Aufbäumen kratzte sie ihn an seinen
Oberarmen und versuchte, ihm ihre Finger in die Augen zu stechen.
Doch dann erlahmte ihre Kraft. Ein Zucken durchlief ihren Körper,
als ob die Seele entflohen sei. Stille herrschte. Er ließ von ihr
ab, sah in ihr vom Todeskampf gezeichnetes, angstverzerrtes Gesicht
und schien nicht zu begreifen, was geschehen war. Mit einem
herzzerreißenden Schrei packte er ihre Schultern und schüttelte
sie, als ob er sie aus tiefem Schlaf erwecken könne.
*
Wie von hohem Fieber gepackt
vibrierte Carlos Körper. Er richtete seinen Oberkörper auf und
umklammerte im Sitzen seine Knie, als suche er festen Halt. Die
ruckartigen Bewegungen hörten auf. Langsam kam er wieder zu sich.
Er sammelte sich, rieb seine Augen, als wolle er einen bösen Traum
wegwischen, setzte sich auf die Kante der Pritsche, faltete die
Hände und betete inbrünstig. »Warum, oh Herr, zürnst du mir immer
noch? Was habe ich getan, das deinen Zorn erregte? War ich dir
nicht immer ein getreuer Diener? Habe ich nicht getan, wie du mir
befohlen hast, den Kreuzzug der Gerechtigkeit für dich geführt?
Gott mein Held, warum hast du mich verlassen?« Carlo war
verzweifelt. Er rutschte vom Rand der Pritsche auf den harten
Zellenboden, senkte sein Haupt, stützte seine Ellbogen auf seine
Schenkel, faltete seine Hände und fuhr - jetzt laut und flehendlich
- fort in seinem Gebet. »Warum, oh Herr, hast du mich verlassen?
Heute Nacht wollte ich vollenden, was du mir aufgetragen! Warum
hast du mich nicht tun lassen, wie du mir geheißen? Wie konntest du
mich nur verraten?« Wie von einer unsichtbaren Macht gepackt schlug
sein Kopf hart nach vorn auf die Pritsche. Einmal, zweimal,
dreimal. Ein lauter Schrei folgte. »Verzeih mir, oh Herr, verzeih
mir, es steht mir nicht zu, an dir und deinen Taten Kritik zu üben!
Du wirst deine Gründe gehabt haben, mich auszuliefern! Verzeih mir!
Ich werde auf immer dein getreuer Diener bleiben! Verzeih mir, dass
ich an dir gezweifelt habe!« Durch den schrillen Schrei alarmiert
war draußen Karl Andres, der während der Nacht Wache hatte, an die
Tür geeilt. Er schaute durch das Guckloch. Was er sah, beruhigte
ihn. Denn der Untersuchungsgefangene kniete vor der Pritsche und
betete.
»Herr, Gott, mein Heiland, ich
schreie Tag und Nacht vor dir. Lass mein Gebet vor dich kommen;
neige deine Ohren zu meinem Geschrei. Denn meine Seele ist voll des
Jammers, und mein Leben ist nahe am Tode. Ich bin geachtet gleich
denen, die in die Hölle fahren; ich bin wie ein Mann, der keine
Hilfe hat. Ich liege unter den Toten verlassen wie die
Erschlagenen, die im Grabe liegen, deren du nicht mehr gedenkest
und die von deiner Hand abgesondert sind. Du hast mich in die Grube
hinuntergelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. Dein Grimm
drücket mich; du drängest mich mit allen deinen Fluten. Meine
Freunde hast du ferne von mir getan; du hast mich ihnen zum Gräuel
gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht auskommen. Meine Gestalt
ist jämmerlich vor Elend. Herr, ich rufe dich an täglich; ich
breite meine Hände aus zu dir. Wirst du denn unter den Toten Wunder
tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir
danken?«
*
Als Carlo den Psalm zu Ende gebetet
hatte, sackte er in sich zusammen. Er verfiel wieder in diesen
Zustand seltsamer Apathie, wie ihm das in den letzten Tagen so
häufig widerfahren war.
Auch in dem Augenblick, als
Fassbinder und Marc in die Wohnung eingedrungen waren, hatte Carlo
diesen völlig geistesabwesenden Eindruck gemacht. Ohne jegliche
Gegenwehr hatte er sich festnehmen lassen. Er wirkte, als ginge ihn
das alles nichts an. Der Arzt hatte ihn kurz begutachtet und
gemeint, er könne eine Suizidgefahr nicht ausschließen.
Entsprechend waren die Vollzugsbeamten im Untersuchungsgefängnis
instruiert worden. Das fehlte mir noch, dachte Karl Andres und
machte sich
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