Gabriel oder das Versprechen
»Da stimmt was nicht!« stieß er
seinen Chef an, der es sich gerade - soweit ihm das auf dem
Vordersitz hinter dem Lenkrad möglich war - bequem gemacht
hatte.
»Was ist los?« antwortete der etwas
unwirsch. »Da stimmt was nicht! Erst schickt sie ihn nach Hause,
weil sie morgen einen anstrengenden Tag hat, und dann findet sie
nicht ins Bett. Seit fast einer halben Stunde brennt da oben
Licht!«
»Komm lass uns nachsehen«, war die
brummige Antwort Fassbinders, während sie ausstiegen und auf das
Haus zugingen. »Und wie kommen wir da jetzt rein? Wenn da wirklich
was nicht stimmt, wäre es kein guter Einfall zu klingeln.«
Automatisch packte er den Türgriff und rüttelte vorsichtig an der
Tür. Aber es bedurfte gar keiner Kraftanstrengung, denn die Zunge
vom Schloss klemmte. »Komischer Zufall! Vielleicht manipuliert?«
meinte er an Marc gewandt und war im selben Moment hellwach. »Ach,
du liebe Güte! Komm schnell!«
Sie hasteten so leise es ging die
Treppenstufen hinauf. Vor der Wohnungstür blieben sie stehen und
horchten. Nicht sehr laut, aber doch wahrnehmbar, waren die Stimmen
einer Frau und eines Mannes zu hören. Sprachfetzen drangen an ihre
Ohren, wenn seine - deutlich kräftigere - Stimme zu hören
war.
»… ist abgelaufen… hast nicht die
Wahrheit… Sünde muss gesühnt … ». Wie zur Bestätigung, dass ihre
Vermutung richtig war, hörten sie dann laut und deutlich die Worte:
»… muss Gabriel seine Mission …«
Mit ohrenbetäubendem Krachen brach
das Türschloss aus seiner hölzernen Verankerung und die Tür flog
auf. Ein einziger kräftiger Tritt von Marc hatte genügt. Mit lautem
Schrei stürzte er sich durch die geöffnete Küchentür auf Carlo, der
völlig verdattert war. Er riss ihn zu Boden, während Fassbinder
sich im Türrahmen der Küche mit gezogener Waffe
postierte.
Für Sandra war es zuviel. Sie brach
zusammen und verfiel in einen nicht endenwollenden Weinkrampf.
Fassbinder legte seinen Arm um sie, redete ihr gut zu und
alarmierte zugleich per Handy den Notarztwagen. »Es ist vorbei.
Alles wird gut. Der Arzt ist gleich da. Und Ihren Freund werden wir
auch sofort verständigen!« Er redete alles Mögliche, um sie
abzulenken. Aber die Tränen strömten ihr unaufhörlich über die
Wangen. Er nahm ihr die Fesseln ab und trug sie behutsam auf ihr
Bett. So ganz allmählich beruhigte sie sich und das Schluchzen
wurde weniger. Schon einige Minuten später war der Notarzt da, gab
ihr eine Beruhigungsspritze und wies die Sanitäter an, sie zur
Beobachtung in die Helios-Kliniken zu fahren.
Marc hatte Carlo Handschellen
angelegt. Er durchsuchte ihn nach Waffen. Aber außer seinem
Faustmesser, das auf der Arbeitsplatte lag, hatte er keine weiteren
Waffen bei sich.
Vor dem Haus drängten sich etliche
Schaulustige. Auch die ersten Reporter waren eingetroffen und
Fassbinder fragte sich wie so oft, ob da wohl wieder unbefugt der
Polizeifunk abgehört worden war. Wie ein Lauffeuer hatte sich die
Neuigkeit verbreitet. Als Fassbinder und Marc mit Carlo im
Schlepptau aus dem Haus traten, brandete Jubel auf. Einige
klatschten. Carlo wurde in eines der Polizeifahrzeuge verfrachtet,
die inzwischen eingetroffen waren. Auch Phillip war - von seinem
Chef unterrichtet - zum Tatort geeilt, um diesen Moment, den sie
alle so sehr herbeigesehnt hatten, mit zu erleben. Fassbinder haute
ihm kräftig auf die Schulter, was das höchste Lob bedeutete, zu dem
er fähig war. »Danke, Phillip, danke an euch alle!« Und dann
landete seine Pranke auch auf der Schulter von Marc. Er drückte ihm
still die Hand, stieg in sein Auto und fuhr weg.
61
Untersuchungsgefängnis, Samstag, 6.
Juni, 1.40 Uhr
Carlo legte sich in seiner Zelle, in
die man ihn nach seiner Festnahme gebracht hatte, auf die Pritsche.
Er wollte über alles nachdenken, was in der letzten Nacht geschehen
war. Er wollte begreifen, warum sein Herr ihn nicht hat vollenden
lassen, was er ihm aufgetragen hatte. Doch die Müdigkeit übermannte
ihn. Er nickte ein. Sein Schlaf war jedoch nur von kurzer Dauer.
Ein lautes Lachen drang in seinen Kopf und biss sich fest. Ein
lautes gellendes Lachen. Er sah Maria vor sich und hörte ihr
Lachen, das nicht enden wollte. Er fuhr hoch. Mit seinen Händen
hielt er sich die Ohren zu. Aber das Lachen hämmerte in seinem Kopf
und wollte nicht weichen. Er wusste, dass sich nun wieder die
Bilder von Marias Todeskampf seiner bemächtigen würde. Er wollte
sie verdrängen, doch er konnte sich der Bilder
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