Gabriel oder das Versprechen
sichtlich erleichtert wieder auf den Weg zurück zum
Aufenthaltsraum, wo eine heiße Tasse Kaffee auf ihn
wartete.
*
Carlo erwachte wie aus tiefer
Ohnmacht. Orientierungslos schaute er sich um, als nähme er seine
Umgebung zum ersten Male wahr. Er stemmte sich hoch und setzte sich
auf die Kante der Pritsche. Einen Moment schien er zu überlegen,
was zu tun sei. Er blickte zu dem vergitterten Fenster. Dann
schüttelte er mehrmals bedächtig den Kopf, legte sich auf die
Pritsche und drehte sich zur Wand. Er zog die Beine an und nahm
seine Arme vor die Brust. So lag er wie ein Embryo im Mutterleib,
geschützt, abgeschirmt von der Außenwelt.
62
Helios-Kliniken Wuppertal, Samstag,
6. Juni, 10.10 Uhr
Noch in der Nacht hatte Fassbinder
Niko angerufen und ihm berichtet, was geschehen war. Nur mit viel
Überredungskunst hatte er ihn davon abhalten können, sofort ins
Krankenhaus zu fahren. Erst nachdem er ihm versichert hatte, dass
es Sandra gut gehe und nichts ihr besser täte, als sich
auszuschlafen, willigte Niko ein, sich wenigstens bis vormittags zu
gedulden.
Jetzt saß er schon über eine Stunde
an ihrem Bett. Noch immer schlief sie. Er sah sie an, wie man einem
kleinen Mädchen beim Schlafen zusieht. Wie unschuldig sie aussieht,
und wie schön sie ist, dachte er. Er wagte nicht, sie zu wecken.
Dann endlich schlug sie die Augen auf, die sich bei seinem Anblick
mit Tränen füllten. Tränen der Freude.
Niko hatte eine winzige rote Rose in
der Hand, mit deren Blüte er ihr über die Wange strich. Dann beugte
er sich über sie und küsste ganz sanft ihre Lippen, als seien sie
aus filigranem
Porzellan.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie und
er legte ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen, wie sie es bei ihm
getan hatte, nachdem sie sich das erste Mal in ihrer Wohnung
geküsst hatten. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte er
und gab ihr die Rose. »Das war das erste und letzte Mal, dass wir
nicht in deinen Geburtstag rein gefeiert haben. Das letzte Mal,
dass ich mich von dir habe wegschicken lassen.«
»Ja, mein Liebster, ich werde dich
nie mehr wegschicken!«
»Versprochen?«
»Ja, versprochen!«
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