Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
nächsten Tag in seiner Wohngruppe an und erfuhr, dass es meinem Sohn auf wundersame Weise besser ging. Mir auch. Nach ein paar Wochen wurde ich nach Hause entlassen. Andreas aber blieb wo er war.
ENTWICKLUNGSSCHRITTE
Andreas merkte sehr wohl, dass wir nicht kamen, um ihn mitsamt seiner drei Taschen wieder abzuholen und nervte die Betreuer damit, dass er nun bald nach Hause gehen würde. Ich wurde gebeten ihm klar zu machen, dass er nun dort zu Hause war. Noch ehe es dazu kam, verschlimmerten sich seine Anfälle dramatisch und es wurde notwendig, seine Medikamenteneinstellung zu überprüfen. Er musste einmal mehr in ein Krankenhaus. Ulli, sein langjähriger Kinderneurologe, hatte Berlin verlassen und gab uns den Rat, uns gleich nach einem Neurologen umzuschauen, der Erwachsene behandelt. Andreas war ja nun fast erwachsen. Er kam in eine Klinik, die in einem anderen Stadtteil von Berlin war. Der Neurologe dort schien Spezialist auf dem Gebiet der Neurochirurgie zu sein. Unbedingt wollte er bei Andreas nach einem Herd im Gehirn suchen, von dem die Anfälle ausgingen, und diesen dann herausoperieren. Ich sagte ihm, dass ein solches Unterfangen sinnlos sei, weil Andreas’ Anfälle noch nie konstant von einem Hirnareal ausgegangen waren und ich ihn aus genau diesen Gründen niemals operieren lassen würde. Er ignorierte mich, setzte alle Medikamente ab und wartete darauf, dass Andreas’ Anfälle einem einzigen Herd zuzuschreiben waren. Ich habe keine Ahnung, warum manche Ärzte einfach nicht zuhören.
Die Tests wurden durchgeführt, blieben jedoch ohne Ergebnis. Mir schien es, als wollte man Andreas nun so schnell wie möglich auf das erstbeste Medikament einstellen. Die Anfallsfrequenz war zwar niedriger, aber Andreas war aggressiv geworden, was noch niemals zuvor der Fall gewesen war. Das war nicht mein Sohn, so kannte ich ihn nicht. Mein Andreas war ein Lieber, mit Ecken und Kanten, wie jeder Mensch. Er ließ sich natürlich reizen, aber auch wieder beruhigen. Aus heiterem Himmel schlug und spuckte er nun, griff alles und jeden an, der ihm zu nahe kam. Im HPZ bekamen das seine Mitbewohner ebenso zu spüren wie seine Betreuer.
Andreas kam spätestens jedes zweite Wochenende zu uns. Nun rief die Gruppe an, ob wir ihn nicht wenigstens für ein paar Stunden holen könnten. Dieses aggressive Verhalten hatte er anscheinend auch schon im Krankenhaus gezeigt, denn außer diesem neuen Medikament hatte er auch Tranquilizer in der Tasche.
Folgendes Gespräch fand kurz darauf in der Klinik statt:
„Mein Sohn verträgt dieses Medikament nicht.“
„Wieso?“, fragte der Professor ziemlich genervt, „Er hat doch kaum Anfälle.“
„Er ist aggressiv, greift Bewohner an, die ihm nichts getan haben. Spuckt Leute an, schlägt um sich und ist durch nichts aus solchen Zuständen herauszuholen. Das hat er noch nie gemacht.“
„Das ist ein Entwicklungsschritt.“
„Das ist was?“, fragte ich ungläubig.
„Wir erhöhen den Tranquilizer und dann werden wir sehen.“
„Nein, das machen wir nicht, auf keinen Fall.“
„Geben Sie ihm eine halbe Tablette mehr, dann sollte er ruhiger werden.“
„Andreas verträgt die Medikation, die er jetzt hat, nicht. Es ist nicht damit getan, das Beruhigungsmittel zu erhöhen. Wie weit wollen Sie das erhöhen?“
„Er hat doch kaum Anfälle, ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Das Beruhigungsmittel wird greifen und dann …“
Hörte mir der Mann nicht zu? Ich stand auf.
„Tut mir Leid, aber das kann ich nicht mittragen. Das neue Medikament muss weg, Andreas verträgt es nicht.“
Nachdem er sich weigerte, meiner Bitte zu folgen, nahm ich meinen Sohn und ging.
Wieder einmal musste Ulli helfen, irgendwas musste passieren. Nach einem Gespräch mit ihm nahm ich Kontakt mit dem Krankenhaus Bethel auf. Das schien mir in diesem Moment als die einzige Möglichkeit, es gab keine Alternative.
Keine zwei Wochen später fuhren wir hin. Der Arzt, der Andreas aufnahm, schaute auf die Anfallsfrequenz, die immer noch niedrig war.
„Die Einstellung scheint aber ganz gut zu sein. Ihr Sohn hat ganz wenige Anfälle.“
„Das stimmt“, gab ich ihm zur Antwort, „aber alles andere stimmt nicht mehr.“
Ich erzählte ihm, wie sehr sich Andreas verändert hatte, dass er Tranquilizer bekam und dass eine ständige Erhöhung keine Option sei, weder für ihn noch für mich. Andreas war fünfeinhalb Monate dort, wurde völlig neu eingestellt, mit seinen langjährigen Medikamenten und einem
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