Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
dass das HPZ sein Lebensinhalt war, sein Nest, in dem seine Familie nichts zu suchen hatte. Doch ich will mich auf eine weitere beschränken.
Jährlich veranstaltete das HPZ ein Sommerfest, zu dem auch die Familien geladen waren. Das Motto aus dem Jahr, von dem ich erzählen möchte, war Brasilien. Geladen waren Eltern, Geschwister, Angehörige, Mitarbeiter und Sambatänzerinnen, die eine kleine Showeinlage zum Besten geben sollten. Mein Bruder hatte zu diesem Zeitpunkt in Peter bereits seinen besten Freund gefunden. Ich ging also zu dem Fest, in der Annahme, dass Andreas mich in der Eingangshalle in Empfang nehmen würde. Er wusste ja, dass ich komme. Ich kam, Andreas war nicht da. Zum ersten Mal ging ich also alleine durch die Einrichtung. Ein komisches Gefühl, ohne den großen Bruder. Ich suchte und suchte und fand ihn schließlich im Garten, neben Peter auf einem Stuhl. Ich will hier wirklich nicht übertreiben, aber die Augen der beiden waren so groß wie Untertassen und die Zungen hingen bis zum Boden beim Anblick der rassigen Tänzerinnen mit den knappen, bunten Kostümen. Ich setzte mich zu ihnen, doch selbst als die Tänzerinnen weg waren erhielt ich nicht die gewünschte Aufmerksamkeit. Die beiden hatten einfach eine gute Zeit und ich störte. Auf mir sitzen lassen konnte ich das nicht. Ich kaufte ihnen Kuchen, Fanta, Bratwürste, dass ihnen hätte schlecht werden müssen. Sie würdigten meinen Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen, mit einem milden Lächeln und ließen mich wieder links liegen. Ich hatte verstanden. Er hätte mir nicht deutlicher sagen können: „Meine liebe Schwester, du nervst mich. Ich habe gesehen, dass du da bist, nett von dir zu kommen, aber ich störe dich auch nicht auf deinen Partys, also mach die Biege.“
Ich glaube nicht, dass er eine so eigenständige Person geworden wäre, wenn er nicht gegangen wäre, oder besser: wenn wir ihn nicht losgelassen hätten. Ich möchte mich hier nicht hinstellen und dafür plädieren, alle Menschen mit einer geistigen Behinderung in eine Einrichtung zu geben, aber ich möchte denen, die diesen Schritt bereits in Erwägung gezogen haben, Mut zusprechen und ihnen sagen, dass es ein Stück Lebensqualität für die Person bedeutet, die ihnen zu Hause nicht geboten werden kann.
Ich habe hier Positives sowie Negatives über meinen kleinen Bruder geschrieben, enden möchte ich jedoch mit einer positiven Geschichte, die zeigt, dass die Menschen, die gesellschaftliche Zwänge nicht kennen und denen es völlig schnuppe ist, wie andere über sie denken, vielleicht viel glücklicher sind als wir denken, vielleicht sogar glücklicher als wir.
Flo, mein Bruder und ich saßen mit dem Auto im Parkhaus fest. Es hatte sich eine unglaublich lange Schlange gebildet und wir waren mittendrin. Die Person in dem Auto vor uns ließ großzügigerweise alle anderen Autofahrer, die gerade ausgeparkt hatten und sich ebenfalls einreihen wollten, vor sich und damit auch vor uns. Wir kamen also gar nicht vom Fleck, während es in der zweiten Schlange einigermaßen lief. Irgendwann reichte es meinem Freund und er schimpfte laut vor sich hin: „Komm schon, du Spinner da vorne, wir müssen nicht alle reinlassen. Fahr endlich auch mal!“
Andreas, der, wie bereits erwähnt, Florian vergötterte, nahm dies zum Anlass, ihn zu unterstützen, sowohl moralisch als auch praktisch. Er öffnete sein Fenster, beugte seinen Kopf raus und schrie unter Aufbietung all seiner Kräfte: „Du Spinner, fahr endlich! Dir brennt doch der Mond!“
Florian und ich saßen mit hochrotem Kopf im Auto, peinlich berührt, während Andreas sich köstlich amüsierte, in der sicheren Annahme, er habe uns einen Riesengefallen getan.
Ich für meinen Teil würde Andreas die Erfahrungen, die er im HPZ gemacht hat, nie streitig machen wollen und ich würde meine Eltern immer wieder in der Entscheidung unterstützen, die sie für ihn getroffen haben.
HPZ
Der 6. Januar kam schneller als gedacht. Als habe jemand mit dem Finger geschnippt, war er plötzlich da. Ich brachte Andreas am Morgen ins HPZ. Er zog nicht mit seiner kompletten Kleidung ein, auch nicht mit all seinen Spielsachen. Ich schleppte in drei riesigen Taschen alles, was er brauchte. Für ihn war nicht der rote, blaue oder grüne Pullover wichtig, auch nicht die schwarze oder blaue Jeans, die mit weiteren oder engeren Hosenbeinen. Ihn interessierten einzig und allein seine Fußballalben und sein „Horschtl“, so nannte er als kleines Kind
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