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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gitta Becker
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das, was er in diesem Moment tat, nicht tun wollte. Ein schwacher Trost, aber ein Trost. In dieser Zeit, als seine Aggressivität immer mehr zunahm, stand die Entscheidung im Raum, ihn wegzugeben. Ich formuliere das jetzt mit Absicht so hart, denn für viele ist ein „jemanden in eine betreute Wohngruppe geben“ gleichzusetzen mit „weggeben“.
    Wir waren alle hoffnungslos überfordert. Niemand wusste so richtig, wie man mit ihm umgehen sollte. Außerdem kam hinzu, dass er sich sehnte. Er sehnte sich, wenn er am Fenster stand und laut rief: „Ein Bus! Da ist ein Bus vorbeigefahren!“, wohl wissend, dass er nie einfach so mit einem Bus wegfahren würde. Er sehnte sich, wenn ich wegging. Er fragte immer, wann ich wieder da sei und wo ich hingehen würde. Wenn ich wiederkam, wurde ich immer begeistert begrüßt, als hätten wir uns seit Wochen nicht gesehen. Er sehnte sich, wenn Freunde von mir da waren.
    Gerade in der Jugendzeit, wenn man anfängt, selbst über Dinge nachzudenken, wenn alle Regeln und Richtlinien dafür da sind, gebrochen zu werden, ein Gerechtigkeitssinn sich formt und reift, kommt man ins Grübeln. Ich war auf die Schiene gekommen, dass alle Menschen gleich sind und die gleichen Rechte haben. Ausnahmen gab es in meinen Augen nicht. Warum sollte also mein Bruder die einzige Ausnahme bilden? Ich stand voll und ganz hinter der Entscheidung, Andreas ein Leben unter Gleichgesinnten zu bieten, ihm Freunde zu geben, die er bei uns zu Hause nicht finden konnte. Als die Entscheidung feststand, ging ich mit meiner besten Freundin zum Baden an den See. Ich erzählte ihr, dass Andreas in eine Einrichtung kommen würde, malte aus, wie schön er es dort haben würde, dass er tonnenweise Mädels abschleppen, die Angestellten nerven, den Boss markieren würde und dann weinte ich. Weinte so sehr, darüber, dass mein Bruder gehen und ich nicht mehr dabei sein würde, um ihn zu beschützen und auf ihn aufzupassen.
    Ich möchte jetzt einen enormen zeitlichen Sprung machen. In die Zeit danach, als Andreas ein fester Bestandteil in seiner Gruppe war und ein vollwertiges Mitglied seines Mikrokosmos.
    Anfangs war ich, glaube ich, immer wütend, wenn ich in die Einrichtung kam. Ich war mir sicher, dass nichts gut genug für ihn war, die Pfleger und Pflegerinnen völlig unzureichend und inkompetent. Niemand, da war ich mir sicher, würde meiner Familie in der Betreuung von Andreas je das Wasser reichen können. Niemand würde ihn so sehr verstehen und auf seine Bedürfnisse eingehen können wie wir. Auch wenn er dort Freunde gefunden hatte, würde er sich immer nach seinem Zuhause sehnen, nach seiner Familie. Ähnlich wie bei einem Ausflug mit der Klasse in ein Landschulheim. Man ist dort glücklich, hat Spaß mit Freunden, aber das Herz ist immer zu Hause. Eine Sehnsucht nach der Familie besteht immer.
    Nun, ich hatte mich in vielerlei Hinsicht geirrt. Andreas akzeptierte das HPZ ziemlich schnell als neues Zuhause. Schneller, als es uns lieb war. Er liebte seine Betreuerinnen und Betreuer inbrünstig und hat sie, glaube ich, ganz schön um den Finger gewickelt. So richtig besucht habe ich ihn dort nie. Wenn ich dort war, dann nur, um ihn abzuholen oder zu bringen. Sobald sich jedoch die Tür vorne öffnete, rannte er mir entgegen drückte mich, dass mir die Luft wegblieb, packte meine Hand und rannte mit mir auf seine Station. Dort wurde ich im Eilverfahren jedem vorgestellt, mit stolz geschwellter Brust sagte er: „Das ist meine große Schwester!“ Danach schnappte er seinen Rucksack und zog mich ebenso schnell wieder hinaus.
    Besser fand ich jedoch immer das „Abgeben“. Da er im Laufe der Jahre immer schlechter lief, was daran lag, dass er seine Krankengymnastin mehr anhimmelte und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, als dass er ihre Übungen befolgte, parkte ich immer direkt vor der Tür. Kaum hielt das Auto, öffnete er die Tür und rannte zum Eingang. Dort meldete er sich ordnungsgemäß beim Pförtner an, drehte sich kurz zu mir um und winkte.
    „Andreas, warte! Ich komme doch mit rein!“, rief ich ihm nahezu jedes Mal hinterher.
    Ich konnte den inneren Kampf sehen, der in ihm stattfand. Auf seine kleine große Schwester warten, die mal wieder rumtrödelte, oder hineinrennen und alle begrüßen, die übers Wochenende schon schmerzlich vermisst wurden. Ich hatte bei diesem Kampf grundsätzlich das Nachsehen. Ich könnte unglaublich viele Situationen aufzählen, in denen mir klar geworden ist,

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