Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
schon eine Puppe, die er immer dabei hatte wenn er schlafen ging.
Es war fürchterlich, meinen Andreas dazulassen, obwohl er sich gleich wohl zu fühlen schien. Das Gefühl, aufgegeben zu haben, kam genau in dem Moment über mich, als ich im Auto saß, ohne Andreas. Ich beruhigte mich damit, dass ich ihn jederzeit wieder „da raus“ holen könnte, als sei er in einem Lager eingesperrt. Ich sagte mir immer und immer wieder, dass das nicht für immer sein müsse. Alles nur gedachte Worte, um mich selbst zu beruhigen und nicht in Tränen auszubrechen. Ein Bild entstand in meinem Kopf: Ich sah Andreas weinen, wie damals, als er nach seinem ersten Fieberkrampf im Krankenhaus bleiben musste. Nur, Andreas weinte nicht, er fühlte sich im HPZ wohl, vom ersten Moment an. Er hatte sein neues Leben begonnen und ich blieb, wie jede Mutter, deren Kind ausgezogen ist, zurück. Bei all der Traurigkeit fühlte ich aber auch ein wenig Erleichterung. Darüber, dass ich Pause davon hatte, Andreas zu versorgen, denn so groß und so alt wie er war musste ich ihm am Morgen immer noch Hilfestellungen beim Anziehen geben. Ich musste neben ihm stehen wenn er sich wusch, seine Zähne putzte, am Morgen wie am Abend. Von alleine kam Andreas nicht auf die Idee, sich anzuziehen oder sich die Zähne zu putzen. Er würde aus dem Haus gehen, den Pullover nicht nur falsch herum an, er würde auch noch die Innenseite außen tragen. Andreas war 16, fast 17 Jahre alt, aber in vielen Dingen war er ein kleines Kind geblieben. Er konnte weder lesen noch schreiben, konnte zwar ganz sicher einzelne Worte identifizieren, aber zu mehr reichte es nicht aus. Ihm war egal, ob er im Schlafanzug war oder nicht, ob er seine Strümpfe ordentlich angezogen hatte oder nicht. Solange seine Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Fußballbilder gedeckt waren, fühlte er sich wohl, mehr Ansprüche hatte er nicht. Er sagte nie, er habe Hunger oder Durst, aber wenn er eine Flasche zu trinken vor sich stehen hatte, so musste er sie austrinken und das in relativ kurzer Zeit. Er sagte auch nicht, es sei ihm schlecht oder er habe Schmerzen. Einmal nur klagte er im HPZ über Schmerzen in der Schulter, aber was da wirklich dran war, blieb allen verborgen.
Ich gab die Verantwortung ab, ihn anzuziehen, zu waschen und zu baden, ihm am Morgen und am Abend seine Medikamente zu geben, ihn zum Bus zu bringen, der ihn in die Schule bringen würde und am Nachmittag pünktlich zu Hause zu sein, um ihn in Empfang zu nehmen. Ich gab die Verantwortung ab, Anfälle kommen zu sehen, diese in ihrer vollen Wucht zu erleben und ihn danach zu versorgen. Ich musste ihn nicht mehr zu Bett bringen und, obwohl er nachts nie Anfälle hatte, nicht mehr mit einem Ohr in seinem Zimmer schlafen, immer bereit, sofort aus dem Bett aufzuspringen, wenn ein Geräusch ungewöhnlich war. Da war nichts mehr, da war Leere. Hatte ich das wirklich gewollt?
Normalerweise ist es üblich, mit dem ersten Besuch sechs Wochen lang zu warten, damit sich die Menschen in ihrer neuen Umgebung eingewöhnen können. Wir umgingen das, weil ich mit Andreas zwei Tage nach seinem Einzug den Termin bei der Krankengymnastin wahrnehmen wollte. Ich wollte meinen Sohn nach zwei Tagen sehen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es ihm im HPZ gefiel. Das Gefühl, das er mir vermittelte, war gut, er schien zufrieden. Ich konnte nun mit Ruhe selbst ins Krankenhaus gehen.
Gott sei Dank hatte ich dort ein Telefon, sodass ich jederzeit in Andreas’ Wohnbereich anrufen und nach ihm fragen konnte. Ich wies seinen Einzelfallhelfer, den er noch über eine begrenzte Zeit behalten sollte, an, mich über alles zu informieren. Nach ungefähr einer Woche erfuhr ich, dass Andreas alle Anzeichen einer Überdosierung hatte. Ich wurde halb wahnsinnig, rief bei seinem Wohnbereich an und riet, Andreas einen halben Liter Mineralwasser trinken zu lassen, was die Wirkung des Medikaments, das für diese Überdosierung verantwortlich war, zum Teil aufgehoben hätte. Das könne man nicht machen, bekam ich zur Auskunft, da ihm Mineralwasser eigentlich verboten war. Herrgott noch mal, dachte ich, das ist die einzige Möglichkeit, dem schnell entgegen zu wirken.
Am nächsten Tag sollte Andreas von seinem Einzelfallhelfer abgeholt werden. Ich rief ihn an und bat ihn, mit Andreas zu mir ins Krankenhaus zu kommen, was er auch tat. Andreas konnte sich kaum auf den Beinen halten, so erbärmlich müde und schlapp war er. Ich gab ihm ausreichend Mineralwasser, rief am
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