Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
und rief schließlich nach hinten, um die gewünschte Information zu bekommen. Die Leute im Warteraum nickten zustimmend: „Endlich mal jemand, der den Mut hat, sich nicht alles gefallen zu lassen!“.
Ich wusste nun, wo Andreas war und lief los. Er sollte noch ein paar Tage auf der Zwischenintensivstation bleiben. Danach sollte er wieder zurück in das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe verlegt werden, das damals über eine ausgezeichnete neurologische Station verfügte. Leider wurde diese auf Grund eines neuen Krankenhausplans, der wegen Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand erstellt worden war, geschlossen. Ein herber Verlust für die Betroffenen.
Andreas wurde Stammgast in der Ersten Hilfe von Havelhöhe, zog sich immer wieder Platzwunden am Kopf zu, einmal auch trotz des Helms, den er trug. Bei näherer Betrachtung stellten wir fest, dass dieser Helm nicht geeignet war, um ihn vor Verletzungen zu schützen. Die meisten Platzwunden am Kopf zog er sich im Badezimmer während der Körperpflege zu, was zu Hause nicht anders gewesen wäre.
Wenn abends ab 21 Uhr das Telefon läutete und auf dem Display die Telefonnummer des HPC auftauchte, konnte ich mich bereits auf den Weg nach Havelhöhe machen. Wir beide, Andreas und ich, kannten dort jede Schwester. Manchmal schaffte ich es, noch vor ihm da zu sein und ihn dann lächelnd mit den Worten: „Hey, wenn du deine Mama sehen willst, dann ruf mich doch einfach an!“, zu begrüßen.
Meistens lächelte er dann zurück und war froh, dass ich da war. Ich konnte ihm das Gesicht reinigen, auch das Gebiet um die Wunde herum, und er ließ sich nähen oder klammern. Manchmal hatte er Glück und die Wundversorgung ging ohne jegliche Stiche von statten. Ich brachte ihn danach wieder zurück in die Wohngruppe, da ich meinen Sohn in den besten Händen wusste. Im Laufe der Jahre fiel mir das alles immer schwerer und manchmal war es mir, als spürte ich selbst jeden Stich, wenn er genäht werden musste.
Andreas fühlte sich wohl in seiner zweiten Familie, wie ich seine Wohngruppe ohne jegliche Eifersucht nennen konnte. Nichts wäre schlimmer für mich gewesen, hätte er mir durch sein Verhalten signalisiert, dass er sich dort nicht wohl fühlte. Er fand dort seinen Freund Peter. Peter und er: ein unglaubliches Gespann, das sich in einer Sprache unterhielt, die niemand sonst verstand.
Peter und er, zwei Freunde, gemeinsame Hobbys: Musik hören, Fußballbilder kleben, fernsehen, quatschen. Die Freundschaft zu Peter hätte Andreas so intensiv niemals erleben können, hätten wir ihn nicht gehen lassen. Was Andreas allerdings niemals teilte, waren seine M&Ms, seine Schokolade oder seine Cola, die er von zu Hause mitbrachte. All das teilte er nicht, aß es aber auch zuerst nicht, als seien das seine Trophäen. Erst nachdem er alles lange genug herumgetragen hatte, verzehrte er seine Vorräte.
Andreas verliebte sich auch. Nicht nur ein oder zwei Mal, es muss schon einige Male gewesen sein. Leider hatte er immer das Pech, dass er sich in Frauen verliebte, die schon vergeben waren. Schmetterlinge im Bauch, oder das Gefühl rot zu werden (und das wurde er, wenn wir ihn nach Frauen fragten), sind herrliche Gefühle. Hätte er das so intensiv erleben können, wenn er bei uns geblieben wäre?
Die Epilepsie, die Andreas hatte, verhinderte, dass er in der Werkstatt für Behinderte arbeiten konnte. Er reagierte auf allzu frühes Wecken oftmals mit einem Anfall. Die logische Konsequenz war die, dass er ausschlafen konnte und nicht geweckt wurde. Er blieb im HPC, während die anderen zum Arbeiten fuhren. So gesehen war mein Andreas ein kleiner Genießer, wenn er auch phasenweise ein wenig neidisch auf diejenigen war, die da arbeiten gingen. Das absolut Größte für ihn war, sich an den Eingang zu setzen und jeden, der kam, persönlich zu begrüßen. Nicht leise, nein laut, sehr laut und zwar mit den Worten: „Einen schönen Freitag wünsche ich dir!“
Am Wochenende seine Eltern, seine Schwestern und den Hund zu sehen, war für ihn die pure Freude. Aber genauso gerne ging er auch wieder. Er wurde, wenn der Zeitpunkt zum Gehen kam, immer unruhiger und begann, seine Süßigkeiten und Fußballbilder zu packen. Der Rest, wie sein Rucksack mit seiner Kleidung, war ihm relativ egal. Wenn wir dann am HPC ankamen, flog die Tür auf, kaum dass das Auto stand. Er nahm seine Provianttüte und stürmte winkend mit einem „Tschüß, bis zum nächsten Mal!“ davon. Bis ich in seiner Wohngruppe
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