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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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aber was konnte sie schon sagen? Sie verstärkte den Druck um seine Hand und drückte sie an ihre Wange, ehe sie sie losließ. Dann erhob sie sich und trug Scuff ins Licht des Durchgangs vor dem Salon. Rathbone blieb, wo er war.
    Der große Raum war fast leer. Monk stand zusammen mit Orme in der Mitte. Die übrigen Polizisten, und auch die Kunden, waren verschwunden. Monk wirkte blass und unglücklich. Auf seiner Wange prangte ein Bluterguss, der bereits dunkler wurde.
    »Was ist passiert?«, fragte Hester verwundert, aber furchtlos. Sie hielt Scuff an der Hand. Der Junge konnte schon wieder stehen, schmiegte sich aber dicht an sie.
    »Die meisten sind verhaftet«, antwortete ihr Monk.
    Es überlief sie eiskalt. »Die meisten ?«
    »Es tut mir leid«, murmelte er mit vor Schmerz und Schuldgefühlen gepresster Stimme. »In der Dunkelheit und in dem Durcheinander sind auch die Männer, die wir oben zurückgelassen hatten, mit in das Getümmel verwickelt worden. Sullivan hat uns verraten und Phillips rausgeschmuggelt. Ich hätte ihn im Auge behalten und damit rechnen müssen. Aber wir werden ihn schnappen. Und wenn wir ihn haben, wird ihm niemand mehr helfen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.«
    Hester nickte stumm. Sie wollte Monk keine Vorwürfe machen und war den Tränen zu nahe, um ein Wort hervorzubringen. Ihr war, als drückte sie ein schreckliches Gewicht nieder. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Was hatten sie nicht alles getan. Und dann dieser Schlag. Sie rang noch nach Luft, als ihr klar wurde, dass ihre Enttäuschung kindisch war. Niemand hatte ihr je Gerechtigkeit versprochen, zumindest nicht, dass sie schnell durchgesetzt oder vor ihren Augen vollzogen würde. Sie hatten Scuff wieder, und er lebte. Er mochte noch jahrelang Albträume haben, aber sie würden für ihn sorgen. Sie würde nicht zulassen, dass er jemals wieder allein war oder Hunger litt.
    Sie blinzelte heftig und schüttelte den Kopf. »Alles zur rechten Zeit«, sagte sie stockend. »Wir haben Scuff, und du hast bewiesen, was Phillips alles ist. Jetzt wird niemand mehr an dir, Durban oder der Wasserpolizei zweifeln.«
    Er versuchte sie anzulächeln, dann wandte er sich ab. Keiner von ihnen erwähnte Sullivan. Ebenso wenig das, was mit ihm passieren mochte oder was er später beeiden sollte. Welche Beweise gegen ihn hatten sie denn in der Hand, wenn der Richter sie tatsächlich anklagte, wie Phillips das vorgeschlagen hatte?
    Inzwischen war es lange nach Mitternacht, und Phillips’ Männer saßen entweder schon in einer Arrestzelle oder warteten unter strenger Bewachung darauf, mit Polizeibooten abtransportiert zu werden. Außerdem waren noch die Jungen da, jeder verängstigt, erniedrigt, dringend auf Fürsorge angewiesen. Sie waren allesamt halb verhungert, grün und blau geschlagen, einige noch dazu mit blutenden oder eiternden Brandwunden.
     
    Die Polizisten hatten alle Hände voll zu tun mit den Verhafteten.
    Rathbone befragte unterdessen sehr behutsam die Jungen und erfuhr langsam Detail um Detail. Immer wieder hakte er nach und hielt alles in einem kleinen Notizbuch fest. Die Antworten schienen ihn nicht minder zu schmerzen als die Opfer.Und als spürten sie seinen Zorn und sein Mitgefühl, gaben sie erstaunlich beredt Auskunft.
    Sutton durchstöberte das Boot nach Esswaren. Das meiste davon waren Delikatessen, die für den verwöhnten Gaumen feiner Herren geeignet sein mochten, nicht aber für den leeren Magen ausgemergelter Kinder. Gleichwohl zauberte er daraus Sachen, die besser waren als irgendetwas, das Hester momentan zustande gebracht hätte.
    Sie ihrerseits tat ihr Möglichstes, um die Verletzungen der Jungen zu behandeln. Dazu verwendete sie kaltes Wasser, Salz sowie saubere Hemden und Unterhemden, die sie in Streifen riss und so in Binden umwandelte. Ausnahmsweise war es ein Nachteil, dass sie heute keinen Unterrock trug. Sobald Boote verfügbar waren, würde sie die Kinder in die Klinik in der Portpool Lane bringen, wo sie sie viel besser verpflegen konnte. Fürs Erste halfen den Jungen freilich auch Fürsorge und Güte – und das Wissen, dass die Freiheit zum Greifen nahe war. Doch sie konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken, wie viel schöner es wäre, wenn sie ihnen versichern könnte, Phillips wäre auf dem Weg zum Gefängnis und bald tot.
    Als Monk die Stufen zum Deck erklomm, krochen die blassen, kalten Finger des frühen Lichts über das Wasser. Die Flut hatte ihren Höhepunkt erreicht und zog

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