1737 - Das Blut der Zauberin
Der Professor deutete nach vorn. »Sehen Sie dort die Einkerbung im Fels?«
»Ja.«
»Da befindet sich der Eingang, das sage ich Ihnen.«
Toni Hellmann hielt sich zurück.
Nicht so der Professor. Er klopfte ihm auf die Schulter. »Kompliment, Toni, Sie haben ihn gefunden.«
Der junge Mann wollte das Lob nicht. »Es ist mein Job. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Trotzdem. Einfach war es nicht.«
»Für mich schon. Ich bin derartige Touren gewohnt.«
»Gut, dann wollen wir nicht länger warten.« Der Professor hatte Mühe, seine Stimme ruhig zu halten. Noch immer erschien es ihm unglaublich, das gefunden zu haben, wonach er seit Jahren gesucht hatte. Intensive Forschungen waren dem vorausgegangen. Er hatte manchmal verzweifelt, aber letztendlich hatte er weitergemacht, und nun konnte er die Früchte seiner Bemühungen ernten.
Auch wunderte er sich darüber, dass bisher niemand anderer diese Höhle entdeckt hatte. Sie lag nicht sehr versteckt. Ein guter Bergwanderer konnte sie schon erreichen, aber es hatte sich niemand dafür interessiert, das stand auch fest.
Der Professor rückte seinen Helm mit der lichtstarken Lampe darauf in die korrekte Position. Auf dem Rücken des Mannes hing noch ein Rucksack. Dort befanden sich einige Werkzeuge, die eventuell eingesetzt werden mussten.
Bevor er losging, warf er einen letzten Blick in die Umgebung. Er und Toni Hellmann hatten Glück gehabt, einen der schönen Sommertage zu erwischen. Ansonsten hatte es in den Alpen viel geregnet, und in den ganz hohen Regionen war auch Schnee gefallen.
An diesem Tag war der Blick grandios. Die Bergwelt stand dort wie eine Kulisse, die für die Ewigkeit gebaut war. Sie sorgte für ein Bild, das man einfach einsaugen musste. Hohe Berge, die verschiedene Formationen aufwiesen. Prächtige Ausblicke von den Gipfeln, auf dem manches Kreuz wie ein kleines Denkmal stand.
Am Himmel hatte die Sonne ihren höchsten Stand bereits überschritten. Die Luft war herrlich klar, wenn auch dünner als unten im Tal. Der Professor verstand jetzt, warum es so viele Menschen ins Gebirge zog, um zu wandern. Denn hier gab es trotz vieler Eingriffe in die Natur noch immer einsame Stellen, an denen man seinen Gedanken nachhängen konnte und von niemandem gestört wurde.
»Sollen wir gehen?«, fragte der Bergführer.
Leitner sah in das sonnenbraune Gesicht des Dreißigjährigen. »Ja, wir machen uns auf den Weg. Ich will endlich mein Ziel erreichen...«
***
Der Eingang zur Höhle lag hinter einem Felsvorsprung verborgen. Er war schmal, jedoch hoch genug, sodass die beiden Männer aufrecht gehen konnten.
Für Professor Leitner erfüllte sich ein Traum. In dieser Höhle sollte, nein, musste sie liegen. Eine weibliche Person mit dem Namen Serena. Eine Mystikerin, eine Zauberin, die vor langer Zeit gelebt und hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte.
Er hatte sich mit dem Leben dieser Person beschäftigt. Vieles war im Dunkel der Geschichte oder der Legenden verschwunden. Nicht alle Menschen waren davon überzeugt, dass sie überhaupt gelebt hatte. Nicht so Ludwig Leitner. Er glaubte fest an Serenas Existenz. In wenigen Minuten würde er den Beweis erhalten.
Er ging als Erster und folgte dem hellen Schein seiner Helmlampe, der im Rhythmus seiner Körperbewegungen über den Boden und auch über Steinwände tanzte, die nicht bearbeitet worden waren. Nach dem Eintreten hatte auch der Bergführer seine Lampe eingeschaltet. Sie war in eine andere Richtung gerichtet, und so wurde der größte Teil des Gangs gut erhellt.
Der Weg führte leicht bergab. Während draußen Geröll auf dem Boden gelegen hatte, war der Untergrund hier recht glatt und fast stolperfrei. Und es war zu erkennen, dass dieser Tunnel nicht sehr lang war. Sein Ende war bereits zu sehen, denn dort mündete der Gang in eine Höhle.
Sie war für den Professor sehr wichtig, denn er ging davon aus, dass er dort die Mystikerin finden würde. Das musste einfach so sein. Zu lange und intensiv hatte er sich mit seinen Forschungen beschäftigt.
Er spürte seinen Herzschlag, der sich verstärkt hatte. Die Luft war schlechter geworden, doch das störte den Professor nicht, der von einem wahren Jagdfieber erfasst wurde. Wenn er Serena fand und sich bestimmte Legenden bewahrheiten würden, dann war er jemand, der ein gewaltiges Geheimnis gelüftet hatte.
Einige Male leckte er über seine trockenen Lippen. Er bot vom Äußeren her nicht das Bild eines alten, in sich gekehrten Wissenschaftlers.
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