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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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desto klarer erkannte er, dass sein Erfolg bei der Truppe von Ormes Respekt abhing und – mehr noch – dass es ihm auf das Wohlwollen dieses Mannes ankam. Letzteres ging ihm gegen den Strich. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals darum gekümmert zu haben, was ein Untergebener von ihm hielt.
    Der Leichter war jetzt nur noch fünf Meter vor ihnen und wurde langsamer, um ein anderes, mit Fässern voller Rohzucker beladenes Transportboot vorbeizulassen, das vor einem Schoner quer über den Fluss zum Ufer zurücksteuerte. Das Schiff lag, von seiner Last so gut wie befreit, höher auf dem Fluss, und da seine riesigen Segel eingerollt worden waren und die Spieren nackt in die Luft ragten, bewegte es sich sanft schaukelnd im Wasser.
    Während der beladene Kahn an Steuerbord querte, schoss das Polizeiboot vor und erreichte den Leichter an Backbord. Der erste Polizist sprang an Deck, der nächste gleich hinterher, beide mit gezogener Pistole.
    Der Fall Phillips war der einzige, den Durban nicht abgeschlossen hatte, und er war, sogar in seinen letzten Aufzeichnungen, eine offene Wunde für ihn geblieben. Seit seinem Antritt von Durbans Erbe hatte Monk immer wieder jede Seite studiert. Die Akte enthielt sämtliche Fakten, die Daten, die Uhrzeiten, die Namen der Verhörten, die Anworten und Schlussfolgerungen, die Entscheidungen, was als Nächstes getan werden sollte. Aber hinter all den Worten, den über die Seiten gekritzelten Buchstaben, schwelten Emotionen. Sie bargen eine Wut, die weit mehr war als bloße Frustration über Scheitern oder verletzten Stolz, weil der Gegenspieler raffinierter gewesen war als man selbst. Sie verrieten einen tiefen, sengenden Zorn über das Leiden von Kindern und Mitleid mit all den Opfern von Phillips’ Gewerbe. Und ob Monk es wollte oder nicht, diese Akte hatte auch in ihm eine immer wieder aufbrechende Wunde hinterlassen. Er musste daran denken, wenn die Arbeit getan und er wieder zu Hause war. Sie überfiel ihn während der Mahlzeiten. Sie drängte sich in seine Gespräche mit Hester, seiner Frau. Solche Auswirkungen auf sein Seelenleben hatte bisher nur sehr wenig gehabt.
    Monk saß angespannt im Heck des Bootes. Alles in ihm drängte danach, zu seinen Männern auf den Leichter zu springen. Wo waren sie eigentlich? Warum waren sie nicht längst mit Phillips wieder aufgetaucht?
    Dann begriff er. Sie waren auf der falschen Seite. Phillips hatte das exakt vorausberechnet. In dem Wissen, dass sie von backbord kommen mussten, um einen Zusammenstoß mit dem anderen Boot zu vermeiden, hatte er sich nach steuerbord gestohlen und war erneut gesprungen. Riskant war das gewiss, aber er hatte ja nichts zu verlieren. Wenn sie ihn erwischten, landete er vor Gericht, und dort konnte es nur ein Urteil geben. Am dritten Sonntag danach würde man ihn hängen.
    Monk sprang von seinem Sitz auf. »Holen Sie die Männer zurück! Er ist an Steuerbord! Auf dem anderen Leichter!«
    Sie hatten es bereits selbst bemerkt. Orme packte das andere Ruder, tauchte es ins Wasser und legte sich verzweifelt in die Riemen, um das Boot an die andere Seite des ersten Leichters zu bringen.
    Die zwei Polizisten sprangen in das Boot zurück, das heftig zu schaukeln begann. Doch jetzt war keine Zeit, mit Orme den Platz an den Rudern zu tauschen. Der andere Leichter hatte schon einen Vorsprung von zwanzig Metern und hielt Kurs auf den Kai. Wenn Phillips es bis dorthin schaffte, bevor sie ihn stellten, war er ihnen so gut wie entwischt. Zwischen all den Kisten und Ballen, den Teetruhen, den Rum-und Zuckerfässern, den Stapeln von Holz, Fellen, Stoßzähnen und Töpfereiwaren, die die Mole füllten, würden sie ihn gewiss nicht mehr finden.
    Monk stand immer noch hoch aufgerichtet im Boot, der Wind, jetzt bei Ebbe mit den Gerüchen von Salz und Fisch beladen, peitschte ihm ins Gesicht. Phillips zu verhaften war das Einzige, was er noch für Durban tun konnte. Damit wäre das Vertrauen gerechtfertigt, das der andere Mann in ihn gesetzt hatte, obwohl sie einander nur ein paar Wochen gekannt hatten. Sie hatten nie den Alltag samt seinen Routineangelegenheiten miteinander geteilt, nur jenen einen Fall, der beinahe unvorstellbares Grauen mit sich gebracht hatte.
    Der Leichter vor ihnen verschwand kurz aus ihrer Sicht, als sich das Heck eines Fünfmasters zwischen sie schob. Monk starrte wie gebannt nach vorn. Es schien viel zu lange zu dauern, bis das andere Boot wieder auftauchte. Klammerte sich Phillips inzwischen an ein loses

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