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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zog sein Taschenmesser unter dem Gürtel hervor, ließ die Klinge aufschnappen und vergrößerte mit ihrer Hilfe die Ritze, damit er die Falltür mit der Hand aufklappen konnte.
    Scuffs aschfahles Gesicht starrte ihnen von unten entgegen, die Augen vor Grauen weit aufgerissen, die Haut von Blutergüssen übersät und mit Blut und Schmutz verschmiert.
    Hester vergaß alle Zurückhaltung, die sie sich vorgenommen hatte. Überglücklich zog sie den Jungen zu sich herauf und presste ihn so fest an sich, dass sie unter normalen Umständen Angst gehabt hätte, ihn zu erdrücken. Ohne auf den stinkenden Schmutz an seiner Haut, den Haaren und Kleidern zu achten, vergrub sie das Gesicht an seinem Hals. In diesem Moment hatte sie nur einen Gedanken: Er war bei ihr und lebte!
    Scuff klammerte sich an sie. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Leib und schluchzte krampfhaft.
    Es war Suttons Stimme, die Hester zurück in die Gegenwart holte und in die Gefahr, die sie für einen Moment vergessen hatte.
    »Hier unten wimmelt’s von Ratten«, sagte er leise. »Die Tür führt direkt in den Stauraum, und weiter unten war noch ein Junge – armer kleiner Kerl, von ihm is’ nich’ mehr viel übrig außer den Knochen und ein bisschen Fleisch. Schauen Sie nich’ hin, Miss Hester. Nehmen Sie den Jungen mit rauf. Das is’ mehr als genug, um ihn um den Verstand zu bringen, eingepfercht zusammen mit den Ratten und der halb verwesten Leiche von’nem anderen Kind. Aber eines garantier ich Ihnen: Wenn Mr. Monk diesen Teufel wieder nich’ an den Galgen bringt, dann knüpf ich ihn mit meinen eigenen Händen auf …« Seine Stimme erstarb, erstickt von Gefühlen.
    Widerstrebend wollte Hester Scuff loslassen, doch leise weinend klammerte er sich noch fester an sie. Sie hätte ihm schon die Finger brechen müssen, um seinen Griff zu lösen. Die Arme um ihn geschlungen und den Kopf wegen der niedrigen Decke eingezogen, stolperte sie zur Tür. Dort empfing Orme sie mit vor Erleichterung strahlendem Gesicht.
    »Ich sag’s gleich Mr. Monk«, versprach er. »Ich … ich sag’s ihm.« Einen Moment lang verharrte er reglos, als wollte er sich die Szene für immer einprägen, dann wirbelte er mit einem noch breiteren Grinsen herum und stürmte zurück in den Salon.
    Hester verlor jedes Zeitgefühl, während sie dort unten saß und Scuff in ihren Armen wiegte. Irgendwann zeigte sich Monk, allerdings nur, um Scuff mit eigenen Augen zu sehen, ehe er wieder verschwand. Nach ihm kam Rathbone und berichtete ihr, dass er die Jungen verhört und den Namen des Toten erfahren hatte. Es war Reilly, der andere Vermisste, der versucht hatte zu rebellieren. Er war fast alt genug gewesen, um an eines der Schiffe verkauft zu werden, die von London aus in See stachen, doch dann hatte er versucht, einige seiner jüngeren Leidensgenossen aus dem Boot zu befreien. Dabei war er erwischt und zur Abschreckung in den Stauraum gesperrt worden. Man würde ihn anhand eines Amuletts indentifizieren können, das er um den Hals getragen hatte.
    »Dafür können wir den Kerl hängen«, stieß Rathbone heiser und mit vor Entsetzen und Trauer trüben Augen hervor.
    »Sind Sie sicher?«, fragte Hester. »Sind Sie wirklich sicher, Oliver? Bitte versprechen Sie nichts, was Sie nur glauben. Ich will keinen Trost. Ich will die Wahrheit.«
    »Es ist die Wahrheit.«
    Endlich konnte Hester Scuff loslassen und berührte Rathbone leicht am Arm. Auch wenn ihre Hand kalt und schmutzig war, empfanden beide eine Wärme, die so intensiv war, dass sie sich anfühlte, als wäre sie die Kraft des Lebens selbst, in seiner ganzen Leidenschaft und Sanftheit.
    »Und was ist die Wahrheit?«, fragte Hester.
    Rathbone wich nicht aus. »Sie haben mich vor kurzem gefragt, wer es war, der mich für Phillips’ Verteidigung bezahlt hat. Ich glaubte, es Ihnen nicht sagen zu dürfen, aber jetzt weiß ich, dass mein Auftraggeber zu denen gehörte, die Phillips diese Geschäfte ermöglichten. Er wusste um die Schwäche von Männern wie Sullivan und verstand es, sie zu nähren, bis sie sie verzehrte.«
    Hester wartete. Sie konnte sein Entsetzen nachvollziehen und hatte eine Vorstellung von seinen Schuldgefühlen.
    »Es war Arthur Ballinger«, hauchte Rathbone mit kaum vernehmbarer Stimme.
    Margarets Vater! Dann hatte sie sich getäuscht. Nicht einmal ansatzweise hatte sie das ganze Ausmaß von Rathbones Entsetzen erfasst! Das stellte alles in den Schatten, was sie sich hätte ausmalen können. Sie rang um Worte,

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