Galgeninsel
das Verschwinden von Kandras gewesen. Der war Kneipier gewesen und dann ins Immobilienfach gewechselt, hatte dann diese Anna Kahlenberg geheiratet. Schielin wollte zurück zu dem Punkt, an dem diese Verbindung ihren Anfang genommen hatte. Er wollte den Fall von vorne beginnen auszuleuchten. Den Unterlagen zu Folge war Kandras im Herbst vor dreizehn Jahren als Gesellschafter in das Unternehmen Kahlenberg Immobilien eingestiegen. Und das war nun durch überhaupt nichts zu erklären. Immerhin fehlte dem Türsteher und Kneipenbetreiber in jeglicher Hinsicht der gesellschaftliche Hintergrund. Und das Unternehmen Kahlenberg war niemals in der Situation, auf Geld aus Quellen, wie sie Kandras darstellte, angewiesen zu sein. Das passte nicht. Schielin schlug immer lauter werdend mit der Handfläche auf den Tisch. Was war der Grund? Was war der Türöffner? Anna? Nein. Sie hatte Kandras erst kennengelernt, als der schon Teilhaber war. Was war im Herbst vor dreizehn Jahren geschehen?
Er langte gerade zu den Aktenordnern, als vom Gang Schritte zu vernehmen waren. Die Bürouhr zeigte vier Uhr an. Lydia schlurfte herein und murmelte einen mürrischen Gruß, gefolgt von einem »Senile Bettflucht, hä?«
»Und selbst. Hat er dich rausgeschmissen?«
Sie warf die Jacke in die Ecke und ließ sich in den Bürostuhl fallen. »Ich habe kein Auge zugemacht und immer wieder über diese Anna nachgedacht. Zwei Sachen sind mir ja während der Vernehmung aufgefallen. Einmal hat sie gesagt, dass ihre Tochter Kandras nie kennengelernt hat.«
Schielin warf die Stirn in Falten. »Und?«
»Sie hat nicht Vater gesagt. Sie hat nicht gesagt, dass Nora ihren Vater nicht kennen gelernt hat, oder als Vater. Verstehst du?«
Schielin blieb regungslos. Sie stöhnte. »Zu früh, ich weiß. Also. Kandras ist nicht der Vater von Nora. Glaube mir. Diese Frau hat keinen Bezug zu diesem Mann. Ich vermute sogar, die war nicht einmal mit ihm zusammen im Bett«, sie winkte ab, »ist ja auch egal, wenn doch. Das ist das eine. Dann hat sie das mit der Bank so eigentümlich fad rübergebracht. Die Aktion mit der Bank war erst möglich, als sie durch den Tod ihrer Mutter die Schweizer Firmen erbte. Ich glaube, diese Faynbach-Klitsche ist ausschließlich gegründet worden, um Kandras fertig zu machen.«
Schielin fand das, was sie sagte logisch und hochinteressant und erklärte ihr, womit er sich beschäftigte. »Genau«, meinte sie, »wie kam der Kerl in diese Kreise?«
Sie holte sich zwei der alten Akten und durchforstete sie.
»Was hat dir der Gommert noch mal erzählt? Vor etwa gut zehn Jahren hätte es ähnliche Aufregung hier gegeben? Zwei Buben sind in der Bregenzer Buch ertrunken und ein Mädchen ist vergewaltigt und ermordet worden?«
»Ja. Deswegen habe ich die alten Akten geholt. Ich will mal sehen, was so alles passiert ist vor dreizehn Jahren. Besonders im Umfeld der Discos da draußen in der Bregenzer Straße.«
Beide arbeiteten konzentriert, blätterten in alten muffigen Akten und lasen auf schon vergilbten Blättern Berichte, die noch mit Schreibmaschine geschrieben worden waren. Beide sahen erschrocken auf, als von vorne Stimmen zu hören waren. Inzwischen war es kurz vor fünf Uhr und eindeutig handelte es sich um Kimmel und Funk. Die beiden standen bald in der Tür und sahen verwundert auf Lydia und Schielin. Außer der kurzen und ernsten Begrüßung fing niemand ein Gespräch an. Nur Kimmel sagte, schon im Weggehen: »Wir haben Gommert getroffen. Er konnte auch nicht schlafen. Er fährt noch beim Bürklin vorbei und bringt Frühstück mit.« Dann ging er in sein Büro und schloss die Tür. Die Erregtheit und dieses unbestimmte Gefühl der Ohnmacht hatte sich gelegt, als er realisierte, dass niemand vergessen hatte, das Licht im Büro ganz hinten zu löschen, sondern dass Schielin und Lydia dort am Fall arbeiteten. Es beruhigte ihn, dass er nicht der einzige war, dem die Sache zu schaffen machte. Verwundert war er jedoch darüber, dass Funk, den er für ziemlich abgebrüht hielt, genauso empfand. Er saß hinter seinem Schreibtisch und wartete auf Gommert.
»Boh!«, rief Lydia aus und verzog das Gesicht. »Was war denn das für ein brutales Schwein!?«
Schielin sah auf. Sie starrte auf einen verblichenen grauen Karton, der früher für Bildtafeln verwendet wurde, und er wartete, bis sie ihm das Blatt mit zwei Aufnahmen reichte. Auch er erschrak, trotz oder gerade wegen der fehlenden Farben der schwarz-weißen Fotografien. Das obere der beiden
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