Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Indizien neu bewertet, und plötzlich war Stasi wieder ein freier Mann. Angeblich hatte man am Tatort die Spuren eines fremden Killers gefunden. Wer weiß, vielleicht hat der Stasi-Clan einfach nur gut gezahlt?
Garlasco ist mir unheimlich. Noch immer verdecken düstere Wolken den Himmel, und die Lichter der Autos spiegeln sich auf dem nassen Asphalt. Vor dem Holztor der Chiesa Santa Maria Assunta stehen alte Männer in dunkelblauen Mänteln. Sie haben ihre Hände vor dem Bauch gefaltet und nicken mir zu, als ich an ihnen vorbeilaufe. Dann merke ich, dass sie nicht mich meinen, sondern den silbernen Leichenwagen, der gerade neben mir hält. Sie öffnen die blumengeschmückte Heckklappe, holen einen dunklen Eichensarg aus dem Auto und wuchten ihn über drei Stufen ins Innere der Kirche. Der Priester steigt gehetzt aus dem Wagen und eilt durch den Regen. Vor der Kirche stoppt ein Polizist den Verkehr, damit ein paar Trauernde, die ihre Gesichter unter Schirmen verbergen, die Straße überqueren können. Ich denke nicht lange nach und folge ihnen. Eine Totenmesse passt gut zu meiner Stimmung.
Nun steht der Sarg vor dem Altar, auf dem sechs hohe schneeweiße Kerzen brennen. Die wenigen Angehörigen haben auf den Holzbänken Platz genommen, ich drücke mich an eine stuckverzierte Marmorsäule und falle in meiner schwarzen Regenkleidung nicht auf. Es scheinen nur vier nahe Verwandte gekommen zu sein. Zwei junge Männer und ein Ehepaar mittleren Alters, sie sitzen ganz vorn. Von allen Seiten blickt die heilige Mutter Gottes mit gütiger Miene auf uns hinab. Ein mächtiges Kruzifix erinnert uns daran, woran wir glauben sollen.
Irgendwie will der Priester so gar nicht in seine Rolle passen. Mit seiner gewaltigen Statur und dem Dreitagebart könnte er Türsteher, Schläger oder Metzger sein. Obwohl nur ein Dutzend Trauernde in der Kapelle sind, spricht er in ein Mikrophon. So ist seine Predigt gut zu hören, sein ständiges Husten allerdings auch. Routiniert bis teilnahmslos rattert er durch seine Gebete – im Namen des Herrn, des Sohnes und des Heiliges Geistes, amen. Jetzt klettert er erstaunlich leichtfüßig auf den Altar, öffnet ihn mit einem Schlüsselchen und holt einen silbernen Kelch heraus. Er bricht eine Hostie, spült sie mit Messwein herunter, hustet, wischt sich den Mund ab und hustet noch einmal. Dann knien sich die Trauernden vor ihm auf den kalten Stein, öffnen ihre Münder, und der Priester legt ihnen Oblaten auf die Zunge. Ein Mädchen im beigefarbenen Trenchcoat, das auf einer der hinteren Bänke sitzt, schnäuzt sich die Nase. Zum Abschluss gibt man sich die Hand. «Pace», sagt der Priester, «pace», spritzt Weihwasser auf die Totenkiste, und die Träger walten wieder ihres Amtes. Amen.
Eigentlich erwarte ich jetzt große Gefühle, schließlich sind wir in Italien. Doch niemand klagt, niemand schluchzt, niemand bricht in Tränen aus, und auch mich hat die Trauerfeier nicht gerade bewegt. Die Angehörigen steigen in einen dunkelgrünen Kombi und folgen dem Leichenwagen zum Friedhof, der Rest der Leute geht seiner Wege. Die Sargträger wirken gelöst und wischen sich zufrieden die Hände ab. Nur eine alte Frau bleibt schimpfend vor der Kirche stehen. Ihr knochiger linker Arm hält einen fliederfarbenen Regenschirm, der rechte wirbelt wild gestikulierend durch die Luft. Argwöhnisch studiert das Mütterchen die Todesanzeigen, die überall in der Stadt ausgehängt sind. Dort sieht man auch ein Foto des Verstorbenen. «Carlo» verschied im gesegneten Alter von dreiundneunzig Jahren. Er ähnelt Gargamel und blickt mit eisiger Miene in die Kamera. Die Dame regt sich furchtbar auf, flucht und nennt den alten Carlo, wohlwollend übersetzt, ein «Miststück». Der Rest ihrer Tiraden ist kaum zu verstehen, und ich versuche ihr zu erklären, dass ich Deutscher, noch dazu blond und daher schwer von Begriff bin. Nun keift sie noch lauter, gerät in Rage und wiederholt ihre bösen Worte so oft, bis mir klar wird, was sie mir sagen will: Carlo sei das kälteste, hinterhältigste und arroganteste Wesen auf diesem Planeten gewesen. Ich sehe noch einmal auf die Anzeige und begreife, warum niemand in Garlasco trauert: Wir haben einen Anwalt beerdigt.
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Kapitel 20
Gang nach Cabanossi
(Canossa)
M anchmal kann ein Schmetterling einen Taifun auslösen, in Parma hat eine Grille eine Revolution heraufbeschworen. «Der Hofnarr wird König!» titeln die Zeitungen. Mit märchenhaften sechzig Prozent
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