Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Tisch. Wie ein kleines Orchester spielen wir gemeinsam eine Symphonie: die Gäste, die Kellner und die Sinne. Der eine isst, der zweite seufzt, der dritte nickt. «Spettacolo!», ruft die Frau am Nebentisch, und schöner könnte man unsere Gefühle nicht ausdrücken. Silberne Löffelchen klingeln in den Espressotassen, und die Schlussakkorde tanzen Kakao-Moleküle im besten Tiramisu meines Lebens. Italiener essen nicht, sie leben.
In dieser Nacht schlafe ich wie ein Murmeltier. Bald schiebt sich die Sonne in den Himmel, und ein wohlgenährter blonder Büßer tritt in Wollsocken, hochgeschlossenen Wanderschuhen und Regenjacke den Gang nach Canossa an. Irgendwie sind sich die italienischen Wetterfrösche nicht grün: Manche sagen Regen voraus, andere behaupten, es werde ein trockener, heißer Tag. Sicher ist, dass der Weg nicht mehr nach Süden führt, sondern nach Westen in die Apenninen, knackige vierhundert Meter aufwärts.
Wie mag sich Heinrich IV. auf diesen letzten Kilometern wohl gefühlt haben? Wehmütig? Glücklich? Ängstlich? Oder war ihm einfach nur schweinekalt? Der König hatte ein gewaltiges Heer im Schlepptau, einen Sack voller Waffen und den Bauch voller Wut. Wie oft hatte er den Papst verflucht? Wie oft dachte er darüber nach, ihn einfach abzumurksen, seinen Kopf mit den Haaren an einen Baum zu nageln und die Burg Canossa in Schutt und Asche zu legen? Ich bin etwas kurzatmig, mein Kopf braust, der Magen rumort. Vielleicht liegt es an der Flasche Rotwein im Ristorante di Canossa – eine halbe hätte auch gereicht, aber halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld. Oder liegt es doch an meiner Aufregung? Ich habe nicht die geringste Ahnung, was oder wer mich heute erwartet. Ich weiß nur, dass es ganz sicher nicht der Papst sein wird. Das beruhigt mich.
Es ist Pfingstsonntag, ein würdiges Datum für mein großes Finale. Normalerweise campe ich an diesem Wochenende mit meinem Vater, seiner Großfamilie und meinem besten Freund Gurke auf einem kleinen Zeltplatz in Leeden, fünfzehn Kilometer vor Osnabrück. Und genau an diesem wunderbaren Ort umarmte ich einst einen Cola-Automaten und machte ihm einen herzzerreißenden, schwer alkoholisierten Heiratsantrag: «Lieber Cola-Automat», lallte ich, «du bist der Einzige, der mich wirklich liebt. Immer wenn ich durstig bin, gibst du mir etwas zu trinken. Willst du meine Frau werden?» Der Automat hätte wenigstens nein sagen können, doch um ehrlich zu sein, hat er nie geantwortet. Stattdessen verschwand er vor ein paar Jahren spurlos. Wahrscheinlich ist er mit der gelben Telefonzelle durchgebrannt, die neben ihm stand.
Mein bedenklicher Hang zum Alkoholismus ist eine der Sünden, die ich heute nach Canossa tragen werde. Neben denen meines Urgroßvaters Heinrich und denen meines Groß-Groß-Groß-Schwipp-Schwapp-Schwupp-Cousins elften Grades, Christian Wulff. Einer in der Familie muss ja mal Verantwortung übernehmen.
Italien ist noch nicht erwacht. Die grüne Kindereisenbahn im Stadtpark von Reggio steht still, die Fensterläden sind geschlossen, nicht mal die Italienfahnen an den Fassaden der verwaisten Einkaufsstraßen bewegen sich. Ein betrunkenes Party-Mädchen mit zerzausten Haaren und verlaufenem Make-up wankt mir auf der Piazza della Vittoria entgegen, grinst obszön und wackelt weiter. Ein Greis mit Schiebermütze und weit offenstehendem Mund sitzt auf einem Streukasten, den Oberkörper auf seinen Gehstock gestützt, und sieht mir nach. «Attenti al cane!», steht an einem Gartenzaun, doch der graue Hund mit den angefressenen Ohren bleibt regungslos und stumm in der Einfahrt stehen. Kirchen, Marienbilder, Friedhöfe, Hochhäuser, der Autobahnzubringer, die Stadt franst allmählich aus, und ich stiefle durch den Abspann meines großen Abenteuers. Schlaglichter. Alles fliegt wie im Traum an mir vorbei, flackert auf und verglüht.
Der Kraftwürfel ist zurück auf dem Wander-Highway. Kein Gehweg, kein Seitenstreifen, keine Leitplanke, hinter der ich mich verstecken könnte. Es ist absoluter Wahnsinn, hier zu Fuß zu gehen, aber ich habe mich an diesen Wahnsinn längst gewöhnt. Und irgendetwas sagt mir: Heute wirst du nicht überfahren. Nicht heute.
In den Dornbüschen neben der Landstraße hängt ein moosbewachsenes Schild, darauf ist eine Art Playmobil-Figur im mittelalterlichen Damengewand zu sehen: «Le Terre di Matilde di Canossa». Manche verehren diese Matilde wie eine Göttin, weil sie sich wie Wonder Woman durch die Macho-Society des
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