Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Klappstuhl und tippt auf ihrem Handy herum. Wurde sie ausgesetzt? Wird sie abgeholt? Hat sie den Stuhl geklaut? Sitzt sie wirklich da? Sie nimmt keine Notiz von mir, ich schiebe mich weiter an den Leitplanken entlang und bete, dass dieser Weg der Erniedrigungen irgendwann irgendwie irgendwo endet.
Erst nach wahnwitzigen vierzig Kilometern werde ich erlöst. Zittrig und ohne jede Illusion erreiche ich meine Unterkunft in Mortara. Was für eine Ironie: Mortara, das klingt wie Mordor aus «Herr der Ringe» – nach Schmerzen, Tod und Verderben. Mein Gott, Italien, was ist nur aus dir geworden? Doch es gibt Hoffnung. Ich habe ein Zimmer in der Villa Sant’Espedito gebucht. Ein Gasthof, der im Internet sehr offensiv mit den Werten Respekt, Tradition und Nächstenliebe wirbt. Sant’Espedito, der heilige Expedit, ist nicht nur Namensgeber eines berühmten Ikea-Regals. Der Legende nach war er ein römischer Feldherr, der im Angesicht einer drohenden Niederlage zum Christentum konvertieren wollte. Da erschien ihm der Teufel in Gestalt einer Krähe und krächzte: «Krah, krah, morgen, morgen! Werde morgen Christ!» Der Römer zögerte nicht lang, zertrat den Vogel und rief: «Ich werde heute Christ sein. Heute!» Und so gilt Expedit als Schutzpatron in dringenden und verzweifelten Fällen. Er hilft all jenen, die es eilig haben. Den Kaufleuten, den Arbeitssuchenden, auch den Reisenden.
Mit ihren Tonziegeln und den ockergelben Wänden wirkt die Villa Sant’Espedito wie ein friedliches Anwesen in der Toskana. Der Kies knirscht in der Einfahrt, im Garten stehen große Amphoren aus Terrakotta. Doch von Entspannung keine Spur: Aus dem Saal wummert Discomusik, draußen unter dem Vordach diskutieren verschwitzte, festlich gekleidete Männer, und drinnen im Flur tobt eine Horde Bambini.
Die genervte Frau am Empfang erzählt mir, dass sie Kopfschmerzen habe und sich am liebsten erschießen würde. «Matrimonio, eine Hochzeit! Schon wieder eine Hochzeit!», stöhnt sie. «Kommen Sie, wir hauen ab!» Sie galoppiert durch den Park in ein Nebengebäude und deutet im Laufen läppisch nach rechts: «Da, die Braut!» Und tatsächlich kauern dort die bedröppelten Vermählten Arm in Arm unter einem Regenschirm und lassen sich am schönsten Tag ihres Lebens fotografieren. Mein Zimmer ist ein spartanischer, gekachelter Raum mit Bad, Kleiderschrank und Fernseher. Die genervte Frau schließt mir auf und lässt sich sofort auf mein Bett fallen. Komisch, macht man das so in Italien?
«Was heißt ‹I’m totally fucked up› in Ihrer Sprache?», fragt sie.
«Vielleicht: Ich bin im Arsch?»
«Bene, ibinimasch! Und was haben Sie verbrochen? Sind Sie ein Pilger?»
Etwas verunsichert versuche ich, katholische Stimmung zu verbreiten, und behaupte, ich sei auf der Via Francigena unterwegs. Das ist ein uralter Pilgerpfad zur Grabstätte der Apostel Petrus und Paulus, er führt auf allen möglichen Wegen quer durch Italien bis nach Rom. «Oh Gott», ruft sie, «Sie sind bekloppt!», und ich zähle in Gedanken, wie oft ich diesen Satz in den letzten Wochen gehört habe. Die genervte Frau verabschiedet sich mit einem inbrünstigen «Ibinimasch», und mir geht es nicht besser als ihr. Wie menschliche Füße nach einer solchen Tortur aussehen, möchte ich aus ästhetischen und persönlichen Gründen nicht beschreiben. Nur so viel sei gesagt: Ich erkenne die Dinger nicht wieder. Es macht den Anschein, als würden sie verfaulen.
Buongiorno tristezza. Wie ein Greis quäle ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett. In der Nacht tobten Blitz und Donner, und noch immer regnet es Sturzbäche. Glücklicherweise hat die genervte Frau ein großes Herz und fährt mich in sagenhaften zehn Minuten zu meinem nächsten Tagesziel. «Ciao, ciao, ibinimasch!», verabschiedet sie sich und sagt noch, dass sie den Rest des Tages schlafen werde.
Schon wieder besuche ich eine Stadt mit einem archaischen Namen: Garlasco. Der Ort ist vor fünf Jahren durch einen mysteriösen Mord berühmt geworden, der in Italien ähnlich viel Aufsehen erregte wie der Prozess um den «Engel mit den Eisaugen» Amanda Knox. Mit einer Schneiderschere hatte der Student Alberto Stasi seine Verlobte Chiara Poggi im Streit erstochen. Vergeblich versuchte er, die Tat zu vertuschen, doch die Carabinieri entdeckten Blut an den Pedalen seines Fahrrads, und der Täter war überführt. Das dachte man zumindest. Zwei Jahre später wurde der Prozess völlig überraschend neu aufgerollt, Aussagen und
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