Gargantua Und Pantagruel
nicht in der Beschimpfung stecken; seine Satire dringt tiefer als die übliche Mönchspolemik des Mittelalters. Sie trifft die Wurzel des Übels, nämlich jene mönchische Haltung, die jede geistige und religiöse Regung einem ebenso starren wie bequemen Formalismus unterordnet und auf Kosten Gottes und der Mitmenschen zu einem tatenlosen Opportunismus einlädt. Die Mönche der Abtei von Seuillé (Gargantua, Kap. 21) greifen angesichts der bevorstehenden Plünderung nicht etwa zu den Waffen: sie flüchten sich wie scheue Hasen in die Kirche, empfehlen sich der Güte Gottes und intonieren ihr »Impetum inimicorum«. Rabelais läßt es aber nicht bei der negativen Kritik bewenden. Der prächtige Bruder Jahn, ebenso hochherzig wie seine Mitbrüder duckmäuserisch, weiß nicht, was er lieber tut: ob mit dem Kreuzholz auf die Feinde dreschen oder mit einem Humpen Wein seinen ewigen Durst löschen. Die Abtei von Thélème, mit der er von Gargantua für seine Taten belohnt wird, ist Rabelais' ›Sozialutopie‹. »Tu, was du willst« – das ist die einzige Ordensregel der Thélèmiten, die Formel für jedes menschliche Zusammenleben; denn nur im Klima der Freiheit – der richtig verstandenen Freiheit – können Kunst, Wissenschaft, Tugend und auch die Liebe gedeihen. Man hat viel über die Abtei von Thélème geschrieben, hat in ihr die Quintessenz des ganzen Werkes und darüber hinaus »das Gedicht der Renaissance« sehen wollen. Vielleicht geht das zu weit. Thélème ist wohl in der Hauptsache ein antiklösterliches Pamphlet, die Rache eines abtrünnigen Mönches, der sich, wie Bruder Jahn, »seine Religion im Gegensatz zu allen anderen einrichtete«. Daß der Ex-Franziskaner Rabelais nicht als einziger am Klosterwesen Anstoß nahm, beweisen die Schriften des Ex-Augustiners Erasmus. Rabelais hat Erasmus nicht nur bewundert und als den »unbesiegbaren Champion der Wahrheit« gepriesen; er verdankt ihm auch allerlei, wenn nicht das Wesentliche.
Parallel der Auflehnung gegen die klösterlich-scholastische Enge erhebt sich in den Werken Rabelais' ein Protest, den man als »Protest des Fleisches« bezeichnen könnte. Sein wichtigster Repräsentant ist Panurge, Konglomerat aus Intelligenz, Feigheit, Nonchalance, Treue und Unsittlichkeit. Panurges Worte und Werke sind nicht geeignet zur Wiedergabe in Damengesellschaft; mit ihm stellt sich das Problem der berüchtigten Rabelaisschen Obszönität – ein Problem, das seine unverdiente Stellung wohl nur der Tatsache verdankt, daß es lange unter falschen Voraussetzungen angegangen wurde. Man unterstellte dem Unanständigen eine unanständige Absicht, nahm es mit großem Bedauern in Kauf und formulierte Entschuldigungen oder Aggressionen, je nach dem offiziellen Grade der Schamhaftigkeit und der mutmaßlichen Empörung des Lesers. Anstatt es einfach als das zu erklären, was es ist: eine Reaktion. Ob und wieweit diese Reaktion übers Ziel hinausschießt, darüber zu urteilen ist nicht Sache der Nachwelt; denn die Maßstäbe liegen im 16. Jh., nicht im 20. Es ist dies das Jahrhundert des Pseudogeistes und der Scheinmoral auf trügerischem religiösem Goldgrunde, das Jahrhundert gleichzeitig der fanatischen Askese und der päpstlichen Ehebruchskinder. Rabelais protestiert nicht gegen den Geist an sich, vielmehr gegen die widernatürliche Verachtung des Fleisches auf Kosten beider, gegen die Zerlegung des Menschen in edle und gemeine Bestandteile. »Ich werde dir die Kehrseite dieser hochmütigen Demut zeigen. Du wirst sehen, wohin die Vergewaltigung der Naturgesetze führt. Schau nur auf dich selbst. Deine Gelüste bringen dein Büßerhemd zum Platzen. Dein Unschuldskleid paßt dir nicht mehr: aus allen Löchern verrät es dein wollüstiges Fleisch. Zwischen zwei Litaneien oder zwei Sophismen stopfst du dich voll mit Essen bis zum Platzen. Da siehst du, was man erreicht, wenn man unsere erste Heimat, die Erde, verachtet. Wer sich zum Engel erhöhen will, der wird zum Tier erniedrigt.« Mit diesem Zitat ist über das heikle Thema eigentlich alles gesagt. Auch Rabelais' vieldiskutierte Geringschätzung des weiblichen Geschlechts ist im Grunde eine Reaktion auf den saft- und kraftlosen, in äußeren Formen erstarrten Frauenkult seiner Zeit. Dagegen halte man Panurges unzweideutige Liebeswerbung: »Madame, dem Staat wär es ersprießlich, Euch ergötzlich, Euerm Stammbaum zur Ehre gereichend und mir notwendig, wenn Ihr Euch mit meiner Rasse belegen ließet.« Dies und alles andere,
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