Gargantua Und Pantagruel
was sich unterhalb des Gürtels abspielt, wird so ohne jede unanständige Verschleierung beim Namen genannt, daß die polemische Absicht viel zu deutlich ist, als daß die Gefühle des Lesers ernstlich verletzt werden könnten – es sei denn, er leide unter der gleichen scholastischen Verdrängung.
Mit der gleichen Treffsicherheit polemisiert Rabelais gegen das Erziehungswesen, gegen die Rechtsmißbräuche, die Dummheit und Eitelkeit der Gelehrten und vieles andere mehr. Unmöglich, das alles anzuführen. Doch es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang, nach einem roten Faden innerhalb des Ganzen. Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck eines ungeordneten Panoptikums, ohne tiefere Organisation. Bis heute wird zum großen Teil an dieser Meinung festgehalten. Vielleicht macht man es sich damit zu leicht. Denn schließlich hat jedes dichterische Werk seine eigene, manchmal verborgene Kohärenz, seinen Ausgangspunkt und sein Ziel.
In Gargantua und Pantagruel wird nach dem Muster der mittelalterlichen Ritterromane über Jugend, Ausbildung und kriegerische Taten der Helden berichtet. Das Dritte Buch behandelt im wesentlichen die Frage, ob sich Panurge verheiraten soll. Sieht man von den Personen ab, so ist diese Episode nicht so willkürlich an diese Stelle gesetzt, wie es den Anschein hat. Die Heirat ist für jeden Mann eine gewichtige Angelegenheit, ein entscheidender Schritt ins Leben; geht es doch auch – und sogar vor allem – dabei um Nachkommenschaft, – Erhaltung der Rasse usw. (Rabelais selbst hatte mindestens drei uneheliche Kinder) – also um ernste und dringliche Fragen. Das Risiko allerdings, das jede Heirat mit sich bringt, läßt sich nicht durch Ratschläge Fremder beseitigen. Auf Panurges Frage, ob seine zukünftige Frau ihm Hörner aufsetzen wird, gibt es seitens der Wissenschaft keine beruhigende Antwort. Die vielen Konsultationen im Dritten Buch bleiben ohne Ergebnis und motivieren das Vierte und Fünfte Buch , nämlich die lange Reise zum Orakel der Göttlichen Flasche.
Man muß den Sinngehalt all dieser Episoden und Bilder begreifen, um die in ihnen verborgene Wahrheit aufzuspüren. Zu Anfang des Dritten Buches entwirft Rabelais im »Lob der Schulden« eine harmonische Welt, ein Ideal. Die Harmonie der Ehe ist auch ein Ideal. Die beschwerliche Suche nach dem Ideal können dem Suchenden die anerkannten Ratgeber der Welt weder ersparen noch erleichtern. Das institutionelle Wissen muß abdanken und den Weg freigeben für die höchstpersönliche Fahrt zur Göttlichen Flasche – ein langer und gefährlicher Weg. Aber selbst die Göttliche Flasche orakelt keine Patentlösung, im Gegenteil: ihre Antwort »Trink« ist die Aufforderung zum eigenen aktiven Handeln. In vino veritas – allerdings. Aber trinken muß man selbst. Man hätte Rabelais vergessen, wäre sein Werk nichts weiter als eine zeitgebundene Satire. Aber »... die guten Leute, die mit toten Steinen bauen, stehen im Buch meines Lebens überhaupt nicht verzeichnet, denn ich baue nur Lebendiges, d.h. Menschen«. Und dieses Lebendige hat die Jahrhunderte überdauert. Es ist heute so frisch und aktuell wie vor 400 Jahren. Oder wäre etwa der Eroberungswahn eines Diktators vom Schlage Pikrochols heute ein Anachronismus, die Demagogie seiner Hauptleute etwas uns völlig Fremdes? Gibt es heute keine volksverdummenden Disputationen mehr, wo der Publikumsbeifall proportional der Anzahl der leeren Worte steigt? Die Menschen haben sich weniger geändert, als es die Geschichte wahrhaben möchte. Nicht nur ist alles schon einmal dagewesen: es kommt offenbar alles auch einmal wieder. Jedenfalls liefert uns Rabelais dafür einen ergötzlichen Beweis, und eben das garantiert die Wahrheit und den Fortbestand seiner Dichtung.
Die vorliegende Ausgabe beruht auf einer späteren Bearbeitung (von Ulrich Rauscher, 1913) der ältesten deutschen Gesamtübertragung von Gottlob Regis (1832-41). Der Umfang des Stoffes machte eine Auswahl notwendig. Gekürzt wurden aber lediglich die weitschweifigen Exkurse, zahllosen Belege und Zitate von antiken Schriftstellern u.ä. Selbstverständlich gehört zu einem genauen Studium Rabelais' die Kenntnis seines Gesamtwerkes. Dessen Übersichtlichkeit und flüssigere Lektüre aber werden durch eine solche Einbuße eher gefördert. Die von Regis in bewußt altertümlichem Deutsch gehaltene Übersetzung wurde nur dort geändert, wo sie in Wortgebrauch und Formulierung dem modernen Leser unverständlich erschienen
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