Gargantua Und Pantagruel
Einführung
»Sehr treffliche Zecher und ihr, meine kostbaren Venusbrüder – denn euch und sonst niemandem sind meine Bücher zugeschrieben ...« Mit diesen Worten wendet sich Maistre Alcofribas Nasier (Anagramm von François Rabelais) im Vorwort zu seinem Höchst erstaunlichen Leben des großen Gargantua (1534) an seine Zeitgenossen. Eine Anrede von zweifelhafter Herzlichkeit! Die »sehr trefflichen Zecher« von 1534 aber waren weniger zimperlich. Lockere Sitten in Liebesangelegenheiten waren in den besten Familien an der Tagesordnung, und was das Zechen betrifft, so hat es noch nie als ehrenrührig gegolten, ein trinkfester Saufbruder zu sein. Nein, die damaligen Leser der unerhörten Heldentaten des Gargantua und Pantagruel waren entzückt. Da war endlich jemand, der ihre Sprache redete – eine Sprache, die die Dinge beim Namen nannte, so unverhohlen und eindeutig, daß die gelehrten ›Abstraktoren‹ jener Zeit es mit der Angst bekamen: »Euch aber soll Antonius' Feuer brennen, soll fallende Sucht zu Boden werfen, Krebs fressen, Blutfluß abzapfen, Aussatz, fein wie Kuhhaar, mit Quecksilber verfeuert, in den Hintern fahren, und ihr sollt wie Sodom und Gomorrha in Schwefel, Feuersglut und Höllengestank umkommen, wenn ihr nicht getreulich alles glauben werdet, was ich euch in dieser gegenwärtigen Chronik berichten tue.«
Das war ein ganz neuer Ton, ein Stil, der sich den Teufel scherte um jede erzieherische oder bildende Absicht einer Ars Poetica. Die Gebildeten, die echten wie die falschen, fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Der Sorbonne, der allmächtigen Regentin über Wissen und Gewissen, fiel es nicht schwer, schockiert zu sein. Ihr genügten die Freiheiten des Pantagruel (1532), um das Buch in Grund und Boden zu verdammen. Doch auch die Humanisten sahen zunächst in Pantagruel nicht viel mehr als einen groben, unanständigen Ulk. »Was fällt dir ein, Rabelais?« schreibt 1533 der Dichter Nicolas Bourbon, ein Freund Rabelais'. »Immer mehr lenkst du unsere Scholaren von ihren Pflichten ab, vom Studium der Literatur und von der Liebe zu den heiligen Büchern. Willst du denn zusehen, wie sie ihre schöne Jugend ... in deinen frivolen und finsteren Volksmären ... in unwürdigen Gemeinheiten, im Mist, im Schlamm verlieren? « Erst zwei Jahre, später, nach der Veröffentlichung des Gargantua, entdeckte man »la sustantificque mouelle«, das »substantialische Mark« dieser anscheinend so groben Knochen. Die hochgelehrte Welt der Sorbonnisten und Scholastiker verdarb sich daran gründlich den Magen. Die Humanisten und Reformatoren aber wußten den Nährwert zu schätzen.
Und was empfindet der unbefangene Leser von heute? Mehr an Ordnung gewöhnt, wird ihn die wild wuchernde Sprache, die Unförmigkeit des Ganzen verwirren. Geschult am pointierten Stil, an der diskreten Formulierung, die mehr andeutet als ausspricht, wird es ihm manchmal schwerfallen, über Rabelais' grobkörnigen Witz zu lachen. Andererseits entschädigt ihn die Fülle für die mangelnde Form. Dies ist kein Spaziergang durch den wohlproportionierten Park von Versailles – dazu ist es noch ein Jahrhundert zu früh –, sondern ein rauher Marsch durch die Wildnis, voller Überraschungen und nicht immer angenehm. Denn daß in der freien Natur nicht alles nach Eau de Cologne riecht, weiß jeder Naturfreund, und dem Philosophen ist klar, daß dies eben in der Freiheit der Natur begründet ist. Mit anderen Worten: es geht – um das Ärgernis gleich vorwegzunehmen – nicht darum, Rabelais' berühmte Unanständigkeit zu entschuldigen. Es geht darum, sie zu verstehen, aus der Zeit, aus der Anlage des Gesamtwerkes.
Man hat Rabelais' gesunde Schamlosigkeit mit der eines großen, nackten Babys verglichen. Damit ist im Grunde nicht viel gesagt. Urwüchsigkeit und Infantilität sind ja hier nicht Gegenstand, sondern Form der Auseinandersetzung. Man vergißt über den Spaßmacher zu leicht den Gelehrten. Der gleiche Rabelais, der über »Gargantua, Pantagruel, Saufaus, die Würdigkeit des Hosenlatzes, Speckerbsen cum commento etc. « schrieb und zu schreiben sich vornahm, hat Galenus ex cathedra gelehrt und die Aphorismen des Hippokrates nach dem griechischen Urtext kommentiert. In seinen fünf Büchern ist ein Wissen von enzyklopädischer Breite aufgespeichert. Die zahllosen Zitate, Anspielungen, Reminiszenzen aus der Antike und dem Mittelalter, geschöpft aus allen Wissensbereichen, vermag heute kaum noch jemand ohne einen wissenschaftlichen
Weitere Kostenlose Bücher