Garp und wie er die Welt sah
sie so heftig am Ohr, dass ihr der Schädel brummte. Sie hieb mit
dem Skalpell nach ihm und entfernte ein Stück von seiner Oberlippe, ungefähr
von der Form und Dicke eines Daumennagels. (»Ich wollte ihm nicht die Kehle aufschlitzen«, erklärte sie später gegenüber der
Polizei. »Ich wollte ihm die Nase abschneiden, aber ich habe sie nicht
erwischt.«)
Heulend kroch der Soldat zum
Mittelgang, und dort auf das schützende Licht im Foyer zu. Ein anderer
Kinobesucher, der ihn sah, schrie vor Schreck auf.
Jenny wischte ihr Skalpell am
Sitzpolster ab, schob die Thermometerhülle über die Klinge und steckte es
wieder in die Handtasche. Dann ging sie ins Foyer, wo gellende
Schmerzensschreie zu hören waren, während der Geschäftsführer von der Tür aus
durch den dunklen Zuschauerraum rief: »Ist vielleicht ein Arzt anwesend? Bitte,
ist ein Arzt da?«
Eine Krankenschwester war da, und
sie ging hinaus, um Hilfe zu leisten, so gut sie konnte. Als der Soldat sie
sah, schwanden ihm die Sinne, was nicht unbedingt am Blutverlust lag. Jenny
wusste, wie Gesichtswunden bluteten – [21] der Schein trog. Die tiefere Wunde an seinem Arm musste natürlich sofort
versorgt werden, aber der Soldat drohte nicht zu verbluten. Niemand außer Jenny
schien das zu wissen – da war so viel Blut, und so viel
davon war an ihrem weißen Schwesternkittel. Im Nu war klar, dass sie es getan
hatte. Die Kartenabreißer wollten nicht zulassen, dass sie den bewusstlosen
Soldaten anfasste, und irgendwer nahm ihr die Handtasche ab. Die wahnsinnige
Schwester! Die rasende Messerstecherin! Jenny Fields bewahrte Ruhe. Sie
glaubte, sie brauchte nur abzuwarten, bis die zuständigen Leute die Lage
durchschaut hatten. Aber die Polizisten waren auch nicht sehr nett zu ihr.
»Sind Sie schon lange mit diesem
Burschen gegangen?«, fragte der erste auf dem Weg zum Revier.
Und ein anderer fragte sie
später: »Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, dass er Sie vergewaltigen wollte? Er sagt, er wollte nur Ihre
Bekanntschaft machen.«
»Das ist aber eine fiese kleine
Waffe, Schätzchen«, sagte ein Dritter. »So was solltest du lieber nicht mit dir
herumtragen. Damit bekommst du nur Ärger.«
Also wartete Jenny darauf, dass
ihre Brüder die Sache in Ordnung brächten. Sie waren beide Juristen – in Cambridge, auf der anderen Seite des Flusses: Der
eine studierte Jura, der andere lehrte Jura.
Sie reagierten nicht gerade
ermutigend, als sie kamen.
»Du hast deiner Mutter das Herz
gebrochen«, sagte der eine.
»Wärst du nur in Wellesley
geblieben«, sagte der andere.
»Ein alleinstehendes Mädchen muss
sich schützen«, sagte Jenny. »Das gehört sich so.«
[22] Aber einer ihrer Brüder fragte
sie, ob sie beweisen könne, dass sie mit dem Mann nicht schon vorher etwas
gehabt hatte.
»Unter uns«, flüsterte der
andere, »bist du schon lange mit diesem Kerl gegangen?«
Schließlich wurde die Sache
bereinigt, als die Polizei herausfand, dass der Soldat aus New York war und
dort eine Frau und ein Kind hatte. Er hatte in Boston Urlaub genommen und
fürchtete mehr als alles andere, dass seine Frau von der Sache Wind bekam. Alle
waren sich einig, dass das wirklich schrecklich wäre – für alle Beteiligten. So wurde Jenny ohne Anklageerhebung freigelassen. Als sie
sich darüber beschwerte, dass die Polizei ihr das Skalpell nicht zurückgegeben
hatte, sagte einer ihrer Brüder: »Herr im Himmel, Jennifer, dann stiehlst du
eben noch eins!«
»Ich habe es nicht gestohlen «, sagte Jenny.
»Du solltest dir ein paar Freunde
zulegen«, riet ihr der eine Bruder.
»In Wellesley«, sagten sie immer
wieder.
»Vielen Dank, dass ihr gekommen
seid, als ich euch gerufen habe«, sagte Jenny.
»Wozu ist eine Familie denn da?«,
sagte der eine.
»Blut ist dicker als Wasser«,
sagte der andere – und erbleichte, als sein Blick auf ihre blutverschmierte
Uniform fiel.
»Ich bin ein anständiges
Mädchen«, erklärte Jenny ihren beiden Brüdern.
»Jennifer«, sagte der ältere – das erste Vorbild in ihrem Leben, weil er so klug
war und immer wusste, was richtig war. Er machte ein ernstes, fast feierliches
Gesicht und [23] sagte: »Man sollte sich besser nicht mit verheirateten Männern
einlassen.«
»Wir werden es Mutter nicht
erzählen«, sagte der andere.
»Und Vater erst recht nicht!«,
sagte der erste mit einem Zwinkern. Bei diesem unbeholfenen Versuch,
menschliche Wärme zu vermitteln, verzog er das Gesicht, weshalb Jenny schon
meinte, das erste
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