Gassen der Nacht
Gasse schlich?
Er zog seine Jacke aus. Der Pullover reichte ihm bis zu den Knien. Das dünne, fettige Haar klebte an seinem Kopf. In den Falten auf seiner Stirn hatte sich der Schweiß gesammelt. Die Gefahr ging von diesem Raum aus, Temple spürte es sehr deutlich. Es gab ein Zentrum, und er wußte auch, wo es lag.
Genau in dieser Sekunde nahm er sich vor, nicht mehr wegzulaufen. Er wollte sich dem Grauen stellen, aber das genau würde nicht ausreichen. Er mußte mehr tun, er mußte es an die Kandare nehmen und wegzerren. Rausschaffen, zerstören, dann würde die Angst nicht mehr durch die Gassen schleichen.
Für ihn war es eine große, aber auch sehr gefährliche Aufgabe. Man konnte sie schon als übermenschlich bezeichnen, er fürchtete sich davor. Er hätte gern Hilfe gehabt, doch es würde ihm hier niemand zur Seite stehen.
Allein, so schrecklich allein…
Walt Temple tappte durch den Laden. Der Trödelhändler fühlte sich wie ein Fremder in seinem eigenen Geschäft. Alles war nicht mehr normal, es war so unnatürlich, so fremd, als hätten alle Gegenstände die Seiten gewechselt und sich nun dem Bösen verschrieben.
Seine Unterlippe hatte er vorgeschoben. Sie zitterte und glänzte speichelnaß.
Temple hatte seine Waren so aufgebaut, daß sie ein kleines Labyrinth bildeten. Es gab da Gänge, die sich mit Nischen abwechselten, Regale bildeten, querstehende Hindernisse, aber jedes war bis zum Rand mit Waren gefüllt.
Eine Nische aber interessierte ihn besonders. Sie hatte er längst als das Zentrum des Bösen erkannt. Es war nicht einfach, dorthin zu gelangen. Kunden sollten sie auf keinen Fall entdecken, deshalb hatte er vor die Nische einen alten Weichholzschrank gestellt, der nur so schwer war, daß er von einer Person zur Seite geschoben werden konnte. Temple bückte sich und drückte seinen Rücken gegen eines der Seitenteile. Der Schrank war lange nicht mehr bewegt worden. Temple hatte das Gefühl, als hätten sich die klotzigen Holzfüße in dem Boden festgefressen, was aber nicht stimmte. Nach dem zweiten Versuch bewegte sich der Schrank zur Seite.
Walt Temple keuchte. Der Schweiß lief jetzt noch stärker übers Gesicht. Er lauschte dem Kratzen der Füße und hoffte, daß sie nicht abbrechen würden.
Es ging alles glatt. Er brauchte den Schrank auch nur so weit zur Seite zu schieben, daß er mit ausgestrecktem Arm den Gegenstand erreichen konnte, der für ihn so wichtig war.
Es war gut, daß Temple das Licht eingeschaltet hatte, so drang etwas von der Helligkeit auch in die Nische und zog den Gegenstand, auf den Temple es abgesehen hatte, aus der grauen Finsternis hervor. Er war so hoch wie ein ausgewachsener Mensch. Er stand auf zwei krummen Füßen, die sich jeweils zu zwei Dreiecken verformten - wie Füße, bei denen die Zehen fehlten. Es war kein Schrank, es war keine Kommode - es war ein Spiegel!
Nicht mehr und nicht weniger. Nur ein Spiegel.
Er schaute hinein, er blickte gegen die Fläche, er duckte sich, und er spürte die Furcht.
Diesmal noch tiefer und intensiver. Sie war wie ein böser Hauch, dem er nicht entrinnen konnte. Die Spiegelfläche strahlte ihn aus, um ihn in seine Gewalt zu bekommen.
Temple grinste bissig. »Nein«, flüsterte er, »nicht mehr, mein Freund, nie mehr. Heute werde ich es dir geben. Ich habe lange genug gelitten. Ich habe meine Angst erlebt, ich will nicht mehr. Aber ich weiß, daß es nur gelingt, wenn ich dich aus dem Haus schaffe.« Er nickte sich selbst zu und erwartete, daß sich diese Bewegung in der Spiegelfläche wiederholte.
Das geschah auch. Nur wieder anders, als er es sich vorgestellt hatte. Dort war zwar eine Gestalt zu erkennen, sie hatte auch Ähnlichkeit mit ihm, aber war er das tatsächlich?
Dieser dunkle Umriß, der schon etwas Geisterhaftes an sich hatte, obwohl er menschlich war?
Temple wunderte sich. Er unterdrückte seine Angst. Er wollte jetzt nicht an gewisse Dinge denken,, die fernab des menschlichen Vorstellungsvermögens lagen, es gab für ihn nur noch eine Alternative. Der Spiegel mußte weg!
Walt Temple hatte ihn allein hergebracht, er würde ihn auch allein wieder wegschaffen. Der Gegenstand gehörte zu den schweren Standspiegeln, wie sie in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts Mode gewesen waren. Die rechteckige, aber an den Kanten abgerundete Spiegelfläche war mit einem Holzrahmen versehen. Ein gefälliges Schnitzwerk, das wie Dornenranken aussah, das noch weiter zu wachsen und sich ineinander zu verschlingen
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