Gefaehrlich begabt
ihres Zopfes, bevor sie die Notizen zusammenklappte. Lediglich ein paar graue Strähnen verrieten, dass sie seit Langem nicht mehr in die Zwanziger gehörte. »Gehst du später zum Lagerfeuer?«
Das Lagerfeuer hatte mittlerweile Tradition. Jedes Jahr besuchte Anna ihre Tante an der Nordsee. Als sie noch klein war, gaben ihre Eltern sie immer zu ihr, um ein paar kinderlose Wochen verbringen zu können. Obwohl Anna längst kein Kind mehr war, kam sie immer noch sehr gern hierher. Seit sich ihre Eltern vor einigen Jahren hatten scheiden lassen, lebte sie bei ihrem Vater in Köln. Ihre Mutter war wegen eines neuen Jobs in die Schweiz gezogen und sie sahen sich nur noch an den Weihnachtstagen.
Anna reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Sie genoss die Ruhe und die Idylle des harmonisch angelegten Gartens. Das Zusammenleben mit der neuen Freundin ihres Vaters entsprach nicht gerade einem Zuckerschlecken. Sally war nur ein paar Jahre älter als sie und Anna würde Ende des Jahres ihren achtzehnten Geburtstag feiern. Trotzdem versuchte Sally, ihr ständig Vorschriften zu machen, und führte sich dabei dreimal schlimmer auf als ihre richtige Mutter. Zudem war Sally eingebildet, oberflächlich und geldgeil. Welche Frau stand schon ernsthaft auf einen zwanzig Jahre älteren Mann? Der Sommer bei Eva bedeutete also immer die reinste Erholung.
»Ja, hatte ich vor. Oder hast du irgendetwas anderes geplant?«
»Nein, ich habe noch einen Auftrag zu erledigen. Geh du nur.«
Mit einem Auftrag meinte Eva eine Kontaktaufnahme ins Jenseits. Die meisten normalen Menschen wussten nichts von den besonderen Talenten, die Existenz der Begabungen galt als geheim. Das änderte aber nichts daran, dass Eva haufenweise Anfragen für Totenbeschwörungen bekam, meistens von Gleichgesinnten mit anderen Fähigkeiten.
»Was ist es diesmal? Wieder ein verzweifelter Ehemann, der nicht weiß, wo seine verstorbene Frau seine Lieblingskrawatte versteckt hat?« Anna grinste. So manch eine Bitte hörte sich ganz schön absurd an und sie betete in drei Teufels Namen, dass sie nicht mit derartigem Schwachsinn genervt werden würde, wenn sie mal nicht mehr lebte.
Eva legte die Stirn in Falten und kniff die Augenbrauen zusammen. Der Gesichtsausdruck verhieß meist nichts Gutes. »Nein, diesmal ist es etwas wirklich Trauriges. Eine Hexe bat mich darum, ihren Mann aufzuspüren. Er war ein Empath und zum Wandern in die Berge aufgebrochen, um sich von den Gefühlen der Menschen zu erholen. Nach ein paar Tagen verspürte sein Ziehsohn plötzlich sein Talent. Frank, so hieß der Mann, hatte ihn als Erben eingesetzt. Natürlich muss etwas Schlimmes passiert sein, aber niemand weiß was. Weder Frank noch sein Freund Bob wurden bisher gefunden und bei der Polizei gelten sie natürlich offiziell nur als vermisst.«
»Das klingt wirklich übel. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Glück.« Anna glaubte, dass sie eines Tages kein gutes Medium abgeben würde, denn schon jetzt hemmte sie manchmal ihr Mitgefühl.
»Es ist der vierte Begabte, der diesen Monat einfach so verschwindet.« Eva rieb sich mit der Hand die Stirn, wie immer, wenn etwas sie nervös machte.
Anna wandte sich ab, um unter die Dusche zu springen. Wenn es um die Angelegenheiten der magischen Welt ging, hielt sie sich lieber raus. Sie hatte gerade erst mit dem Studium begonnen und Eva war ein wirklich guter Mentor. Aber sie hatte noch ewig Zeit, diese komplizierten Dinge zu lernen.
Sie stellte sich unter die kalt eingestellte Brause. Ihr erhitzter Körper überzog sich mit einer Gänsehaut, aber es tat gut. Mehrfach wusch sie sich mit ihrem Lieblingsshampoo die Haare, bis jede Pore ihres Körpers nach Erdbeeren duftete. Ihr wollte nicht einfallen, wann es das letzte Mal so heiß gewesen war. Die Erinnerungen an ihren einzigen Auslandsurlaub verblassten unter der Hitzewelle des Jahrhundertsommers.
Zehn Minuten später betrat Anna das Wohnzimmer. Sie rubbelte sich im Laufen die Haare trocken, auf einen Föhn konnte sie bei dem Wetter gut und gern verzichten. Eva baute einen Beschwörungskreis auf und blickte kurz zu ihr. Wozu das Kräuterzeugs und die Kerzen gut sein sollten, wusste sie noch nicht, aber vermutlich würde Eva sie noch früh genug mit diesem Wissen beglücken.
Ein Türklopfen riss sie aus den Gedanken.
»Gehst du bitte?«
Sie nickte Eva zu. »Das ist bestimmt Kevin, er wollte mich abholen. Also bis später.«
»Ja, bis später.«
Kevin wohnte in der Nachbarschaft. Na ja, in
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