Gefaehrlich begabt
deutete auf den Campingtisch, er stand voll mit Bier und Wein. »Ihr gehört doch jetzt schon zu den Großen«, fügte die füllige Dame mit einem Zwinkern in den Augen hinzu.
Kevin griff nach einem Bier und hielt Anna die geöffnete Flasche hin.
Sie trank für gewöhnlich keinen Alkohol und bitteres Bier mochte sie nicht. Aber hier an der See lebte es sich eben anders. Sie nahm ihm die Flasche ab und trank einen großen Schluck, allerdings nicht, ohne sich innerlich zu schütteln.
Die Hitze ließ sich so nah am Wasser schon besser ertragen. Außerdem ging die Sonne langsam unter. Der orangefarbene Ball küsste die Wasseroberfläche und eine frischere Brise wehte ihnen um die Nase. Der Geruch von Salzwasser erfüllte sie, ummantelte Kleidung und Sinne.
»Hi Kevin.« Ein rothaariges Mädchen gesellte sich zu ihnen, sie war etwa im gleichen Alter. Anna hatte sie schon öfter gesehen, erinnerte sich aber nicht an ihren Namen. Ihre großen, grünen Augen blitzten aufgeregt in Kevins Richtung.
»Hi«, antwortete er knapp, griff unerwartet Annas Hand und zog sie eilig auf die andere Seite der Feuerstelle. Seine verschwitzte Hand in ihrer fühlte sich seltsam an. Was war das bloß? Vorsichtig löste sie sich von ihm.
»Sorry, aber du musstest mich retten. Tina ist so unglaublich nervig und spielt schon seit Wochen mein Anhängsel.«
Anna lachte auf, daher wehte also der Wind. Lag sie also gar nicht so verkehrt mit der Annahme, die Mädels hier hätten ein Auge auf ihn geworfen.
Willy trat auf sie zu und begrüßte sie mit Handschlag. »Ihr könnt euch setzen und eine Wurst nehmen.«
Der alte Mann hatte sich mal wieder zum Wurstchef ernannt, er glaubte, ihm gebührte der Posten wegen seines Namens. Er tat das jedes Jahr und inzwischen störte es niemanden mehr. In den vergangenen Jahren hatte es deswegen ab und zu Streit gegeben, weil er nicht immer fair verteilte. Die typischen Probleme einer kleinen Dorfgemeinde.
Knapp hundert Leute hatten sich inzwischen am Deich versammelt, Jung bis Alt unterhielt sich amüsiert.
»Wo ist Eva?«
»Sie hat zu tun«, antwortete Anna in die Runde, ohne zu wissen, wer die Frage gestellt hatte.
Die Würstchen in die Flammen haltend, und mit einem Bier ausgestattet, saßen und standen sie am Feuer. Einige hatten sich am Wasser niedergelassen. Die Atmosphäre war entspannt, in jeder Ecke wurde gewitzelt und gequatscht. Kevin berichtete ausführlich von der Taufe seiner kleinen Schwester, als Anna bemerkte, dass es bereits dunkelte. Im Norden schienen sich die Uhren schneller zu drehen, es kam ihr vor, als wären die Tage viel kürzer. Vielleicht lebte man aber auch einfach nur intensiver, Anna wusste es nicht.
Sie ließ den Blick in die Runde schweifen. Viele Gesichter wirkten im Schein der Flammen erhitzt, glühten rotbäckig vom Alkohol und der Wärme des Feuers. Die kleine Feo war sogar eingeschlafen, Kevins Vater hielt sie fest im Arm.
»Es ist Zeit für eine Legende.«
Anna erkannte den älteren Mann, der sich aufgerichtet hatte. Als Kinder hatten Kevin und sie ihm oft die Erdbeeren aus dem Garten geklaut. Er schimpfte immer wie ein Rohrspatz. Der Alte setzte sich ein Stück näher ans Feuer und räusperte sich. Das Gemurmel erstarb. Die, die nicht zuhören wollten, verabschiedeten sich und schlenderten ans Wasser. Als er weitersprach, klang seine Stimme noch kehliger, als sie es ohnehin schon tat.
»Vor vielen Jahren hat sich in unserem Dorf eine Geschichte zugetragen, an deren Wahrheitsgehalt wir heute noch manchmal erinnert werden.
Er lebte nicht weit von der Kirche entfernt, der Landvermesser mit seiner Familie. Einen kräftigen Jungen hatte er herangezogen, mit starken Armen und einem intelligenten Kopf. Er sollte eines Tages in die Fußstapfen des Vaters treten. Doch Ansel, so hieß der Knabe, hatte bei Weitem andere Vorlieben. Er interessierte sich nicht für die Landvermesserei und war mehr dem Wasser oder auch den Tieren zugetan. Und somit wurde er als junger Mann zum Knecht vom Deichbauer ernannt. Er sollte sich auf dessen Hof um das liebe Vieh kümmern. Aber Ansel verbrachte den Tag lieber am Meer, folgte den Gezeiten, anstatt im Stall nach dem Rechten zu sehen. Er beobachtete des Deichbauers Handwerk und hatte ein paar Ideen, die er ihm abends im Stall zuteilwerden ließ. Tief in ihm erwachte der Wunsch, einen Deich zu bauen. Und so kam es, wie es eines Tages kommen musste. Die Stelle des Deichbauers wurde neu vergeben. Ansel scheute keine Mühe, um das Dorf
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