Gefährliche Freiheit
dachte daran, dass er geglaubt hatte, solange die Leute die Bevölkerungspolizei hassten, könnte ihm nichts passieren. Ihm war nicht klar gewesen, wie leicht sich Hass säen, wie mühelos er sich auf ein neues Ziel lenken ließ. Noch drei Tage mit solchen Reden und die Menge wäre imstande, dritte Kinder auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Und es würde sie nicht kümmern, wie viele ehemalige Bevölkerungspolizisten ihnen dabei halfen.
Wieder stieß Jenny ihn an, als versuchte, sie ihn zum Aufstehen zu bewegen.
Luke rollte sich auf den Rücken.
»Vergiss es. Ich gehe nirgendwo hin«, sagte er zu ihr. »Ich gebe auf. Es gibt nichts mehr, was ich noch tun kann.«
Jenny wieherte erneut und drückte mit dem Kopf gegen ihre Boxentür. Luke sah, dass er vergessen hatte, sie zu verriegeln, als er hereingekommen war.
»Wie? Stört dich das etwa?«, fragte er scharf. »Hast du Angst, du hättest am Ende ein bisschen Freiheit? Oder müsstest vielleicht ein paar Entscheidungen treffen?«
Ihm stiegen die Tränen in die Augen, als er daran dachte, dass er noch am Vortag geglaubt hatte, ebenfalls frei zu sein, und dass er sich darum gesorgt hatte, die Freiheit könnte zu viele Entscheidungsmöglichkeiten mit sich bringen. Jetzt hatte er das Gefühl, überhaupt keine Wahl mehr zu haben.
»Okay, okay, ich mach sie zu«, sagte er zu Jenny. »Es wäre sowieso ungerecht, wenn ein Pferd mehr Freiheit hat als ich.«
Doch sobald er aufstand, rückte Jenny von ihm ab. Sie drückte die Tür auf und trottete aus der Box. Vielleicht bildete sich Luke das alles nur ein oder seine Augen spielten ihm im spärlichen Licht einen Streich, auf jeden Fall hatte er den Eindruck, als schaue sie sich mit einer Mischung aus Verwunderung und Hoffnung im Blick nach ihm um.
»He, mein Mädchen, geh nicht zu weit«, sagte er. »Wahrscheinlich ist es keine gute Idee, wenn du dich draußen unter die Leute mischst. Sie sind nicht besonders freundlich aufgelegt.«
Und doch konnte er sich vorstellen, wie das Pferd anmutig durch die Menge schritt, ohne dass ihm etwas geschah. Mochten die Menschen von den Reden noch so aufgehetzt oder sogar von Hass erfüllt sein, sie würden dennoch in der Lage sein, über Jenny zu staunen und die Anmut ihrer Bewegungen zu bewundern.
Und dann sah er sich seltsamerweise selbst auf Jennys Rücken sitzen und mit ihr über den Rasen reiten. Er stellte sich vor, wie die Menge verstummte, die Reden abbrachen und sich alle Augen auf ihn und Jenny richteten. Er sah, wie Jenny Anlauf nahm … Ihm stockte der Atem.
»Meinst du, das schaffen wir?«, fragte er Jenny heiser. »Glaubst, das ist der Weg, um …?«
Wieder und wieder ging er die Szene im Kopf durch. Sie vermischte sich mit anderen Szenen und Dingen, die er erlebt oder gehört hatte. Er sah die Frau in Chiutza vor sich, die ihm frank und frei ins Gesicht gesagt hatte: »Ich habe eine Wahl.« Sie war nicht frei gewesen, als sie das gesagt hatte, sie hatte nicht gewusst, dass die Bevölkerungspolizei entmachtet werden würde. Sie hatte es gesagt, nachdem Luke in ihr Haus eingedrungen war und sie allen Grund hatte zu glauben, dass man sie für ihre Weigerung umbringen würde.
Und er dachte an seine letzte Begegnung mit Jen, in der Nacht, ehe sie zur Kundgebung gefahren war. Das Letzte, was sie zu ihm gesagt hatte, war: »Wir können hoffen« – obwohl sie zu diesem Zeitpunkt gewusst haben musste, dass ihre Kundgebung zum Scheitern verurteilt war.
Ich habe auch im Versteck meine eigenen Entscheidungen getroffen, schien Jens Stimme in seinem Kopf zu flüstern. Ich habe die Möglichkeit der Freiheit allem anderen vorgezogen.
Luke dachte daran, dass für Oscar Macht wichtiger zu sein schien als alles andere.
Er dachte an seine Freunde und daran, was ihnen wichtig war. Trey glaubte an Worte, Bücher und Wissen. Nina hielt die Erinnerung an ihre Großmutter in Ehren und an ihre Tanten, die sie aufgezogen hatten, und sie versuchte, deren Vorstellungen gerecht zu werden. Percy, Matthias und Alia, drei Kinder, die Luke durch Nina kennen gelernt hatte, glaubten an Gott und daran, sich zu bemühen, immer das Richtige zu tun.
Und ich, woran glaube ich? Was ist mir das Wichtigste?
Er war schon lange nicht mehr der kleine Junge, der sich auf dem Dachboden versteckt und glaubt, es spiele keine Rolle, was ihm wichtig sei, woran er glaube und was er wolle.
In Wirklichkeit habe ich immer irgendwelche Entscheidungen treffen müssen. Zu Hause, in der Hendricks-Schule, bei den
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