Gefährliche Geliebte
überempfindlich.
Und so lebten Shimamoto und ich uns auseinander, und ich traf sie schließlich überhaupt nicht mehr. Und das war wahrscheinlich (wahrscheinlich ist das einzige Wort, das ich in diesem Zusammenhang verwenden kann; ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, den Erinnerungsraum, den man die Vergangenheit nennt, zu erforschen und zu entscheiden, was richtig war und was falsch) ein Fehler. Ich hätte ihr so nah wie irgend möglich bleiben sollen. Ich brauchte sie, und sie brauchte mich. Aber ich war zu gehemmt, und meine Angst, verletzt zu werden, war zu groß. Ich sah sie nie wieder. Erst viele Jahre später wieder, meine ich.
Auch nachdem wir aufgehört hatten, uns zu treffen, dachte ich weiter mit großer Zuneigung an sie. Die Erinnerung an sie machte mir Mut, linderte mir die Verwirrungen und Schmerzen des Heranwachsens. Lange Zeit nahm sie einen besonderen Platz in meinem Herzen ein. Ich hielt diesen besonderen Platz nur für sie frei, wie einen ruhigen Ecktisch in einem Restaurant, mit einem »Reserviert«-Schildchen darauf. Und das, obwohl ich mir sicher war, daß ich sie nie Wiedersehen würde.
Zur Zeit unserer Bekanntschaft war ich erst zwölf Jahre alt gewesen und hatte noch keine echten sexuellen Gefühle oder Wünsche. Obwohl ich ein gewisses, unbestimmtes Interesse an der Schwellung ihrer Brust und dem, was sich unter ihrem Rock verbarg, nicht bestreiten will. Aber ich hatte keine Ahnung, was dieses Interesse bedeutete oder wohin es hätte führen können.
Mit gespitzten Ohren und geschlossenen Augen stellte ich mir die Existenz eines gewissen Ortes vor. Dieser Ort meiner Vorstellung war noch unfertig. Er war nebelhaft, unbestimmt, verschwommen. Dennoch war ich mir sicher, daß dort etwas absolut Lebensnotwendiges auf mich wartete. Und ich wußte eines: daß Shimamoto im selben Augenblick auf genau dasselbe Bild starrte.
Wir waren, sie ebenso wie ich, noch fragmentarische Geschöpfe, die gerade erst begannen, die Existenz einer unerwarteten Wirklichkeit zu erahnen, die wir uns noch würden aneignen müssen, die uns ausfüllen und vervollständigen würde. Wir standen vor einer Tür, die wir noch nie zuvor gesehen hatten. Wir beide allein, unter einem schwach flackernden Licht, unsere Hände fest umeinander geschlossen, für flüchtige zehn Sekunden.
2
Auf der Oberschule war ich ein typischer Teenager. Dies war die zweite Phase meines Lebens, ein Schritt nach vorn in meiner persönlichen Evolution - die Vorstellung, ich sei anders, aufzugeben und mich für die Normalität zu entscheiden. Nicht, daß ich nicht mein Bündel von Problemen gehabt hätte; aber welcher Sechzehnjährige hat das nicht? Nach und nach rückte ich näher an die Welt heran, und die Welt rückte näher an mich heran.
Mit sechzehn war ich kein mickriges kleines Einzelkind mehr. In der Mittelschule hatte ich angefangen, in einem Hallenbad nicht weit von unserem Haus Schwimmunterricht zu nehmen. Ich lernte kraulen und ging von da an zweimal die Woche meine Bahnen schwimmen. Meine Schultern und meine Brust verbreiterten sich, und meine Muskeln wurden kräftig und straff. Ich war nicht mehr das schwächliche Kind, das alle naselang Fieber bekam und das Bett hüten mußte. Oft stellte ich mich nackt vor den Badezimmerspiegel und musterte jeden Quadratzentimeter meines Körpers.
Fast konnte ich mit ansehen, wie ich mich körperlich veränderte. Und ich freute mich über diese Veränderungen. Ich meine damit nicht, daß mich die Vorstellung, erwachsen zu werden, besonders fasziniert hätte. Mehr als die innere Reifung freute mich meine sichtbare Verwandlung. Ich konnte also vielleicht doch zu einem neuen Hajime werden.
Ich las gern und hörte gern Musik. Schon immer hatte ich eine Schwäche für Bücher und das Lesen gehabt, und die Freundschaft mit Shimamoto hatte diese Neigung noch vertieft. Ich begann, in die Bibliothek zu gehen, und verschlang jedes Buch, das ich in die Finger bekam. Hatte ich ein Buch erst angefangen, konnte ich es nicht wieder aus der Hand legen. Es war wie eine Sucht; ich las während des Essens, im Zug, im Bett bis tief in die Nacht und, heimlich, in der Schule, während des Unterrichts. Bald kaufte ich mir eine kleine Stereoanlage und hörte mir, in meinem Zimmer verschanzt, stundenlang Jazzplatten an. Aber das Bedürfnis, mit jemandem über das zu reden, was mir die Bücher und die Musik gaben, hatte ich eigentlich nicht. Ich war vollauf damit zufrieden, ich zu sein und niemand sonst. In diesem
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