Gefährliche Geliebte
einem zäheren, gelasseneren Einzelkind, als ich es je hätte werden können. Nie jammerte oder klagte sie, nie ließ sie auch nur durchblicken, wie ärgerlich oder entnervt sie manchmal gewesen sein muß. Was auch passierte, immer brachte sie ein Lächeln zustande. Ja, je schlimmer die Sache wurde, desto strahlender wurde ihr Lächeln. Ich liebte ihr Lächeln. Es beruhigte mich, machte mir Mut. Es wird schon werden, sagte mir ihr Lächeln. Halt einfach durch, und alles wird gut. Wenn ich Jahre später an sie zurückdachte, war ihr Lächeln mich erinnerte. Shimamoto bekam immer gute Noten und war zu allen freundlich. Man respektierte sie. Wir waren beide Einzelkinder, aber in dieser Hinsicht waren sie und ich verschieden. Das soll allerdings nicht heißen, daß alle unsere Klassenkameraden sie mochten. Niemand ärgerte sie oder machte sich über sie lustig, aber außer mir hatte sie keine richtigen Freunde.
Wahrscheinlich war sie zu besonnen, zu beherrscht. Manche unserer Klassenkameraden müssen sie für kalt und hochmütig gehalten haben. Aber ich spürte da etwas anderes - etwas Warmes und Zerbrechliches gleich unter der Oberfläche. Etwas, das sich wie ein Kind, das Verstecken spielt, tief in ihrem Inneren verbarg und doch hoffte, entdeckt zu werden.
Da Shimamotos Vater häufig versetzt wurde, hatte sie schon eine ganze Reihe von Schulen besucht. Was ihr Vater von Beruf war, weiß ich nicht mehr. Einmal hat sie es mir ausführlich erzählt, aber wie das bei Kindern so ist, ging das bei mir durch ein Ohr rein und durch das andere wieder hinaus. Ich meine mich zu erinnern, daß es mit einer Bank oder Steuerbehörde zu tun hatte. Auch das Haus, in dem sie wohnte, war vom Arbeitgeber des Vaters gestellt, aber es war größer als sonst üblich: ein Haus im westlichen Stil, mit einer niedrigen, massiven Steinmauer um das Grundstück. Über die Mauer ragte eine immergrüne Hecke, und durch deren lichte Stellen konnte man in einen Garten mit einem Rasen spähen.
Shimamoto war ein großes Mädchen - ungefähr so groß wie ich - mit ausdrucksvollen Gesichtszügen. Ich war mir sicher, daß sie in ein paar Jahren eine Schönheit sein würde. Aber als ich sie kennenlernte, entsprach ihr Äußeres noch nicht ganz ihren inneren Qualitäten. Sie hatte etwas Unausgewogenes an sich, und die meisten fanden sie nicht sonderlich attraktiv. Ein Teil von ihr war erwachsen, ein Teil noch kindlich - und das erzeugte eine gewisse Dissonanz. Und diese Dissonanz verunsicherte die Leute.
Wahrscheinlich weil wir so nah beieinander wohnten - buchstäblich einen Steinwurf voneinander entfernt -, wurde sie, als sie an unsere Schule kam, neben mich gesetzt. Ich erklärte ihr, was für Bücher sie brauchen würde, wie die wöchentlichen Klassenarbeiten abliefen, wieviel wir in den einzelnen Fächern schon durchgenommen hatten, wie der Putzdienst und die Arbeit in der Essensausgabe geregelt waren. In unserer Schule hielt man es so, daß das Kind, das einem Neuzugang am nächsten wohnte, sich in der Anfangszeit um diesen zu kümmern hatte; mein Lehrer nahm mich beiseite und teilte mir mit, er erwarte, daß ich mich der gehbehinderten Shimamoto ganz besonders annehmen würde.
Wie bei allen Elf- oder Zwölfjährigen, die zum erstenmal mit einer Person des anderen Geschlechts reden, waren unsere Gespräche während der ersten paar Tage recht verkrampft. Als wir aber herausfanden, daß wir beide Einzelkinder waren, wurden wir lockerer. Beide lernten wir zum erstenmal ein anderes Einzelkind kennen, und es gab soviel über unser jeweiliges Einzelkinddasein zu erzählen, was wir bis dahin für uns behalten hatten. Oft gingen wir von der Schule zusammen nach Hause. Langsam, wegen ihres Beins, gingen wir den einen Kilometer und unterhielten uns dabei über vielerlei. Je mehr wir redeten, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckten wir: unsere Liebe zu Büchern und Musik; von Katzen ganz zu schweigen. Es fiel uns beiden schwer, anderen unsere Gefühle begreiflich zu machen. Beide hatten wir eine lange Liste von Gerichten, die uns nicht schmeckten. Bei den Schulfächern kannten wir nur zwei Kategorien: solche, die uns Spaß machten, auf die wir uns mühelos konzentrieren konnten - und solche, die wir auf den Tod nicht ausstehen konnten. Ein wichtiger Unterschied bestand allerdings zwischen uns: in weit stärkerem Maße als ich umgab sich Shimamoto bewußt mit einem schützenden Panzer. Im Gegensatz zu mir strengte sie sich in den Fächern, die sie haßte,
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