Gefährliche Praxis
wirklich nur zum Schlafen zwischendurch da war. Außer einer gebrauchten Kühlbox für unser Bier gab es dort nichts.«
»Haben Sie jemals Barristers Familie kennengelernt?«
»Er hatte keine, die der Rede wert wäre. Die Polizei hat das sicher alles schon geklärt. Der Kriminalbeamte, der hier mit mir gesprochen hat, hat das auch erwähnt. Mike war Waise, wie er allzu gerne mit einem Grinsen sagte. Er war das einzige Kind eines Einzelkindes und bei seinen Großeltern aufgewachsen. Sie waren beide schon tot, als ich ihn kennenlernte. Soviel ich weiß, hatte er eine glückliche Kindheit. Ich erinnere mich, daß er mal über Lawrence gesprochen hat, ich meine den Schriftsteller. Mike war eine Leseratte.«
»Die Literatur scheint mich in diesem Fall zu verfolgen.«
»Seltsam, nicht? Ich habe von einem Gedicht geredet und von Snow, dabei habe ich mich, glaube ich, seit Jahren nicht mehr eines literarischen Vergleichs schuldig gemacht. Vielleicht ist das der Einfluß Ihrer Professorin Fansler. Ich weiß nicht, warum ich im Zusammenhang mit Mike unbedingt auf Bücher komme. Aber das einzige, was er mir aus seiner Kindheit erzählt hat, hatte mit D. H. Lawrence zu tun.«
»Mit ›Lady Chatterley’s Lover‹?« fragte Jerry.
»Ich glaube nicht. Kommen da irgendwelche Kinder vor?«
»Nein«, sagte Jerry. »Jedenfalls keine schon geborenen.«
»Dann war es nicht das. In diesem Buch kam ein kleines Mädchen vor, das aus irgendeinem Grund Angst hatte, und ihr Stiefvater trug sie mit sich herum, während er die Kühe fütterte. Ich weiß wirklich nicht, wo da der Zusammenhang ist, denn Mikes Großvater hatte keine Kühe. Aber die Art, wie sein Großvater ihn tröstete, nachdem seine Eltern umgekommen waren – die habe Lawrence eingefangen, sagte Mike. Das klingt alles nicht sehr wichtig. Ich weiß nicht, warum ich es erwähne. Wie dem auch sei, Mike hatte kaum Verwandte; es gab aber eine alte Dame, der er regelmäßig schrieb.«
»Hatte er damals ein Verhältnis zu einer bestimmten Frau?«
»Nicht, daß ich wüßte. Wahrscheinlich glauben Sie, Janet Harrison kannte ihn aus dieser Zeit, und ich wußte nichts davon. Das ist natürlich denkbar. Mike hat nie über seine Freundinnen geredet, aber sicher weiß die Polizei, wo Janet Harrison zu der Zeit gelebt hat.«
»Ging er oft aus?«
»Nein. Wenn wir mal einen Augenblick Pause hatten, dann schliefen wir.«
»Wie lange waren Sie zusammen?«
»Ungefähr ein Jahr. Praktisch, solange unsere Ausbildung am Hospital dauerte. Dann ging ich nach Chicago. Mike dachte auch daran, hat es dann aber nicht getan.«
»Wohin ging er?«
»Nach New York. Das wissen Sie ja.«
»Haben Sie von ihm aus New York gehört?«
»Nein. Ich glaube, er ist nicht gleich nach New York gegangen. Er hat erst einmal Urlaub gemacht, Camping. Wir lieben beide Camping. Ich hatte eigentlich vor, mit ihm zu fahren, aber das zerschlug sich in letzter Minute. Er fuhr nach Kanada – ich habe eine Karte von ihm bekommen. Das habe ich auch alles dem Kriminalbeamten gesagt. Es war das letzte, was ich von ihm gehört habe, bis auf die üblichen Weihnachtsgrüße. Die haben wir uns noch ein paar Jahre lang geschickt.«
»Eigentümlich, daß Sie ihn nie in New York getroffen haben.«
»Ich bin nur ein paarmal dort gewesen, auf medizinischen Kongressen. Ich nahm immer meine Familie mit und verbrachte jede freie Minute mit ihr. Einmal bin ich Mike begegnet, aber wir hatten eigentlich keine Zeit, uns zu unterhalten. Es gab auch keinen besonderen Grund dafür.«
»Ich weiß jetzt ganz gut Bescheid. Bleibt die Frage, warum sie Ihnen das Geld hinterließ. Sie haben ihr nicht mal zufällig das Leben gerettet und es dann vergessen?«
»Ich rette keine Leben. Ich kann natürlich nicht ausschließen, daß mein Auge einmal auf ihr geruht haben könnte, aber ich glaube es nicht, und ganz bestimmt nicht länger als einen Augenblick. Jedenfalls entdecke ich keinen Sinn hinter der Sache. Sie wissen wirklich nicht, ob Mike ihr jemals begegnet ist? Die Tatsache allein, daß ich Mike einmal gekannt habe, beweist eigentlich nichts. Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.«
»Werden Sie das Geld annehmen? Vielleicht habe ich gar nicht das Recht, Sie danach zu fragen.«
»Das ist eine ganz verständliche Frage. Ich weiß gar nicht, ob ich das Geld wirklich bekomme. Das Mädchen wurde ermordet, und sie hat Familie, die das Testament wahrscheinlich anfechten wird. Aber wenn ich das Geld bekäme, würde ich es
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