Die Wacholderteufel
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«Ein Euro fünfzig», sagte der Wärter im kleinen Kabuff, das im Vergleich zu dem beeindruckend großen Felsmassiv der graugrünen Externsteine aussah wie ein Modellhäuschen.
«Am liebsten passend», er rückte beim Sprechen ein Stückchen weiter nach vorn und hielt seinen Mund näher an die ovale Öffnung der Glasscheibe, damit die junge Frau ihn besser verstehen konnte. «Ein Preis für Hin- und Rückweg!», fügte er hinzu und grinste. Es war einer seiner Lieblingsscherze.
Die junge Frau hatte das Geld schon abgezählt in der Hand gehalten. Sie legte die Münzen langsam auf die Durchreiche und hielt noch kurz die Hand darauf, damit sie nicht allzu laut klimperten.
Er riss von der Rolle eine der länglichen grün-weißen Eintrittskarten ab. «Vorsichtig, mein Fräulein, die Stufen könnten etwas glatt sein. Bei dem Nebelwetter legt sich die Feuchtigkeit wie Schmierseife auf die Steine, das kann ich Ihnen aber sagen. Halten Sie sich gut fest. Ist anstrengend genug, der Aufstieg.»
Sie nickte nur und wandte sich ab.
Sie wirkt nicht wie eine typische Touristin, die neugierig die Umgebung erforschen will, dachte der Wärter. Er überlegte, ob er seinen Kollegen, die heute hinten im Wald arbeiteten, Bescheid geben sollte. Irgendetwas kam ihm merkwürdig vor. Die Frau war so schweigsam, sie hatte nicht ein winziges bisschen gelächelt, noch nicht einmal freundlichkeitshalber über seinen abgedroschenen Spruch.
Er war noch nicht lange dabei. Seit achtzehn Monaten gehörte er dem Arbeitstrupp des Forstamtes Horn an, meistens machte er das Kassenhäuschen an den Externsteinen. Nahm den Touristen ein bisschen Kleingeld für den Eintritt ab, damitsie sich diesen riesigen Steinhaufen von allen Seiten, vor allem von oben anschauen konnten. Er händigte ihnen auch für fünfzig Cent die Infobroschüre aus, in der in Englisch, Französisch und Deutsch geschrieben stand, dass diese Felsformationen ungefähr siebzig Millionen Jahre alt waren und seit jeher die Menschen fasziniert und inspiriert hatten. Er wies die Besucher auf das Kreuzabnahmerelief neben dem Eingang zur Grotte hin und zeigte ihnen den Weg zum Grabfelsen, der etwas abseits der Steine ein Stück weiter unten am Ufer des kleinen Sees lag. Die Anlage rund um die Felsen glich einem Park, eine große Rasenfläche breitete sich auf der Seite, an der auch das Wärterhäuschen stand, aus. Im Sommer standen hier jede Menge Parkbänke zum Ausruhen, und Blumenbeete zierten das beliebteste Ausflugsziel im Teutoburger Wald. Das Rundherum der Externsteine mit Spiegelbild im daneben liegenden, künstlichen See war irgendwann einmal von einem Landschaftskünstler perfektioniert worden. So etwas gefiel den Touristen eben.
Das Horner Forstamt war dafür zuständig, dieses Fleckchen Erde in Ordnung zu halten. Da er gern mit Mensch und Natur zu tun hatte, war er froh um diesen Job.
Aber in diesen letzten achtzehn Monaten war auch noch nichts passiert, zum Glück, dachte er. Doch er erinnerte sich: Seine Kollegen hatten mal gesagt, sie könnten diese gefährdeten Typen auf den ersten Blick erkennen. Man würde das spüren.
Er blickte der Frau hinterher. Sie schaute sich nicht großartig um, sondern ging beinahe geschäftig auf den Hauptfelsen zu. Sie trug einen grauen Wollmantel und eine gestrickte Mütze. Sonst sah sie irgendwie nackt aus. Es dauerte jedoch eine Weile, bis der Wärter dahinter kam, warum. Erst als sie schon die seitliche Treppe erklommen hatte, erkannte er es: Sie trug keine Tasche bei sich. Keinen Fotoapparat, keinen Rucksack,kein Garnichts. In seinem Kopf schrillte eine Alarmglocke, und er griff zum Funkgerät. Vor Nervosität verwechselte er die Knöpfe und drückte zuerst drei- bis viermal nur die Ruftaste. Seine Finger wurden feucht und zitterten. Endlich bemerkte er sein Versehen und fand den richtigen Schalter. «Horst hier. Ich sitze an der Kasse. Ich glaube, ich hab grad ’nen Flieger.»
«Was?», fragte eine Stimme.
«Scheiße, hier ist ’ne junge Frau. Die geht bei der Eins rauf. Mit der stimmt was nicht.»
Eine Zeit lang schwieg es in der Leitung. Dann meldete sich der Kollege hörbar aufgeregt: «Wie weit ist sie schon?»
Der Wärter schaute in Richtung Felsen, der am nächsten beim See lag und den sie die «Eins» nannten. Die jahrhundertealten Stufen waren schmal und wesentlich höher als die Treppenstiegen der heutigen Zeit. Die Besucher hatten stets zu kämpfen, um die Aussichtsplattformen zu erreichen. Nicht wenige machten
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