Gefährliches Geheimnis
und tupfte das Blut weg, während Kristian weiterarbeitete.
»Kommt sie wieder auf die Beine?«, fragte Callandra.
»Sie hat eine Chance«, meinte Kristian. Plötzlich lächelte er erleichtert, und in seinen Augen war deutlich die Befriedigung zu lesen. »Wenn Sie wollen, können Sie Thorpe erzählen, dass es kein Tumor, sondern ein Trichobezoar war.«
»O ja, gerne«, antwortete sie. Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, und ohne zu zögern drehte sie sich um und
verließ den Raum, um ihren Auftrag auszuführen.
Hester warf einen flüchtigen Blick auf Kristian, bevor sie sich wieder über ihre Arbeit beugte, Blut wegtupfte und die Wunde sauber hielt, während die Nadel durch die Haut stach und die Wundränder zusammenzog, bis der Schnitt schließlich geschlossen war.
»Sie wird große Schmerzen haben, wenn sie wach wird«, sagte Kristian zu Hester. »Sie soll sich nicht zu viel bewegen.«
»Ich bleibe bei ihr«, versprach Hester. »Laudanum?«
»Ja, aber nur am ersten Tag«, warnte er. »Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen. Bleiben Sie? Sie haben sie die ganze Zeit beobachtet, nicht wahr?«
»Ja.« Hester war keine Krankenschwester. Sie leistete freiwilligen Dienst wie Callandra, Witwe eines Feld- chirurgen und eine Generation älter als Hester und dennoch seit nunmehr fünf Jahren ihre beste Freundin. Hester war wahrscheinlich die Einzige, die wusste, wie sehr Callandra Kristian liebte und dass sie erst diese Woche den Heiratsantrag eines lieben Freundes abgelehnt hatte, weil sie sich nicht auf eine achtbare Kameradschaft einlassen und ihre sehnsüchtigen Träume begraben wollte. Aber das waren nur Träume. Kristian war verheiratet, und das hieß, dass es zwischen ihm und Callandra nie mehr geben würde als die gemeinsame Leidenschaft für das Heilen und die Gerechtigkeit und vielleicht ein gemeinsames Lachen ab und zu, die kleinen Siege und das Verständnis.
Hester, die seit kurzem verheiratet war und um die Tiefe und Macht der Liebe wusste, bedauerte Callandra, weil diese auf so viel verzichtete. Und sosehr sie ihren Mann trotz seiner Fehler und Schwächen liebte, würde auch Hester nach seinem Tod eher allein bleiben, als sich auf einen anderen einzulassen.
Es war Spätnachmittag, als sie das Krankenhaus verließ und den öffentlichen Omnibus Richtung Hampstead Hight Street nach Haverstock Hill nahm und von dort zur Euston Road. Ein Zeitungsjunge rief aus, fünfhundert ameri- kanische Soldaten hätten in New Mexico kapituliert. Die Zeitungen brachten die neuesten Nachrichten über den Bürgerkrieg, aber die Ängste drehten sich um den wegen der Blockade der Konföderierten Staaten ausbleibenden Nachschub an Baumwolle in Lancashire.
Hester eilte an ihm vorbei und ging die letzten paar Meter zur Grafton Street. Es war Anfang Oktober und immer noch mild, aber es wurde dunkel, und der Laternenanzünder war bereits unterwegs. Als sie sich ihrer eigenen Haustür näherte, sah sie einen großen, schlanken Mann ungeduldig davor warten. Er war tadellos gekleidet in einen schwarzen Gehrock mit hohem Kragen und gestreifte Hosen, wie man sie bei einem Gentleman aus der Stadt erwarten würde, aber seine ganze Haltung verriet Erschütterung und tiefes Unglück. Erst als er ihre Schritte hörte und sich umdrehte, so dass das Licht der Lampe auf sein Gesicht fiel, erkannte Hester ihren Bruder, Charles Latterly.
»Hester!« Er trat rasch auf sie zu und hielt dann inne.
»Wie … wie geht es dir?«
»Mir geht es sehr gut«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Es war ein paar Monate her, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, und für einen so kontrollierten und konventionellen Menschen wie Charles war es sehr ungewöhnlich, dass er auf der Straße wartete. Vermutlich war Monk noch nicht da, sonst wäre Charles sicher ins Haus gegangen.
Sie schloss die Tür auf, und er folgte ihr hinein. Die
Gaslampe in der Halle brannte auf sehr kleiner Flamme,
und Hester drehte sie hoch und führte ihren Bruder ins Vorderzimmer, wo Monk Mandanten empfing, die mit ihren Albträumen und Ängsten zu ihm kamen, damit er versuchen sollte, sie zu lösen. Da sie beide den ganzen Tag unterwegs gewesen waren, lag zwar Holz im Kamin, aber es war noch nicht angezündet. Eine Schale mit gelb- braunen Chrysanthemen und scharlachroter Kapuziner- kresse spendete die Illusion von Wärme.
Sie drehte sich zu Charles um.
Er war wie stets sehr höflich. »Es tut mir Leid, dich zu stören. Du musst müde sein. Ich nehme an, du hast dich den
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