Gefährliches Geheimnis
nachdem die Wirkung des Laudanums nachgelassen hatte, unter großen Schmerzen. Aber die Wunde war sauber, und Mary war in der Lage, ein wenig Kraftbrühe zu sich zu nehmen und sich auszuruhen.
Am frühen Nachmittag ging Hester nach Hause, zog das einfache blaue Kleid aus und schlüpfte in ihr bestes Nachmittagskleid. Das Wetter war mild, so dass sie weder einen Mantel noch einen Umhang brauchte, aber ein Hut war absolut unentbehrlich. Das Kleid war von einem weichen Blaugrün, was ihr ausgesprochen gut stand,
obwohl es sicher nicht modisch war. Hester hatte sich noch nie auf dem Laufenden gehalten, wie weit geschnitten ein Rock zu sein hatte oder wie ein Ärmel oder ein Ausschnitt auszufallen hatte. Sie hatte weder das Geld noch, um ehrlich zu sein, das Interesse dafür, aber bei einem Besuch bei ihrer Schwägerin war es eine Sache des Stolzes, nicht wie eine arme Verwandte daher- zukommen, obwohl sie genau das war! Vielleicht war das der Grund, warum es wichtig war.
Zudem war es sehr wohl möglich, dass Imogen Besuch hatte, und Hester wollte sie nicht in Verlegenheit bringen; auch wenn andere Anwesende der Absicht von Hesters Besuch im Wege stehen würden.
Sie trat hinaus auf die staubige Straße und ging den kurzen Weg nach Endsleigh Gardens. Sie beachtete die Fassaden der Häuser in den Londoner Straßen nicht und nahm die Hufschläge ebenso wenig wahr wie den vorbeifahrenden Verkehr und das Rattern der Räder auf den Pflastersteinen, das Klirren der Geschirre und die Rufe der zornigen Kutscher und der Hausierer, die ihre Waren anboten. Ihre ganze Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet. Sie überlegte, ob es ihr überhaupt gelingen konnte, Charles zu helfen, ohne dass sie das Risiko einging, die Sache noch schlimmer zu machen. Sie und Imogen hatten sich einmal sehr nahe gestanden, bevor Hesters berufliche Interessen sie auseinander gebracht hatten. Sie hatten viele Stunden geteilt mit Lachen und dem Austausch von Klatsch, Glaubensfragen und Träumen.
Sie hatte noch keinen brauchbaren Entschluss gefasst, als sie bei dem Haus ankam und die Türglocke betätigte. Das Mädchen ließ sie herein und bat sie in den Salon.
Hester war eine Weile nicht hier gewesen, aber sie war in diesem Haus aufgewachsen, und alles war ihr so vertraut, als hätte sie einen Schritt in die Vergangenheit
gemacht. Die opulenten, dunkelgrünen Vorhänge schienen kaum je einmal bewegt worden zu sein. Sie hingen in exakt den schweren Falten herab, an die sie sich erinnerte, obwohl das Einbildung sein musste. Zumindest im Winter wurden sie sicher abends zugezogen. Das Kamingitter aus Messing schimmerte, und da stand die Staffordshire-Vase mit späten Rosen auf dem Tisch, ein paar Blätter waren auf die glänzende Tischplatte gefallen. Der Teppich hatte eine abgetretene Stelle vor dem Lehnstuhl, in dem früher ihr Vater gesessen hatte und der jetzt Charles’ Platz war.
Die Tür ging auf, und Imogen kam hereingefegt; ihre Röcke waren modisch weit geschnitten und von einem hübschen, blassen Pflaumenblau, das nur jemandem mit ihrem dunklen Haar und ihrer hellen Haut gut stand. Ihre Jacke war einen Ton dunkler und so geschnitten, dass sie ihrer Taille schmeichelte. Sie sah strahlend aus und voller Selbstvertrauen, fast Aufregung.
»Hester! Wie schön, dich zu sehen!«, rief sie aus, umarmte sie hastig und küsste sie auf die Wange. »Du besuchst mich viel zu selten. Wie geht’s dir?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern wirbelte herum, hob die Rosenblätter auf und zerdrückte sie in der Hand. »Charles sagte, du warst in Amerika. War’s schrecklich? Die Nach- richten drehen sich nur um den Krieg, aber ich nehme an, das bist du gewöhnt. Und der Zugunfall in Kentish Town natürlich. Sechzehn Tote und über dreihundert Verletzte! Aber ich nehme an, das hast du schon gehört!« Ein Stirn- runzeln huschte über ihr Gesicht und verschwand wieder.
Sie setzte sich nicht und bot auch Hester keinen Stuhl an, sondern bewegte sich rastlos durchs Zimmer. Sie ordnete die Rosen in der Vase neu, wobei sie eine zerbrach, so dass sie noch mehr Blätter aufsammeln musste. Dann schob sie einen der Kerzenleuchter auf der Kaminein- fassung zur Seite, damit er in gerader Linie zu dem auf der
anderen Seite stand. Sie war eindeutig nicht in der Stimmung für eine vertrauliche Unterredung, und schon gar nicht über ein so intimes Thema wie eine Liebesaffäre.
Hester erkannte, was für eine unmögliche Aufgabe sie übernommen hatte. Bevor sie
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