Gefährliches Talent: Kriminalroman
rotieren oder abstürzen, und jedes versprühte farbige Lichter, sodass es aussah, als würden sie explodieren. Sie hatte auch gelesen, dass sie neun einzelne Filmbilder eines einzigen explodierenden Autos darstellen sollten. Außerdem habe der chinesische Künstler Cai Guo-Qiang dabei an Autobomben und Terrorismus gedacht und daran, wie wir alle trotzdem ganz gelassen unseren Alltagsgeschäften nachgehen.
Es war aber nicht das Thema, das sie davon abhielt, sich lange im Atrium aufzuhalten. Moderne Kunst war ziemlich eklektisch und auch wenn nicht alles nach ihrem Geschmack war, so akzeptierte sie es doch. Nein, es war einfach der Gedanke, länger als unbedingt nötig unter einer Traube tonnenschwerer Autos zu stehen, die drohend zwölf Meter über ihrem Kopf baumelten, noch dazu in einem Erdbebengebiet. Alix war nicht besonders ängstlich, aber beim Gedanken an Erdbeben wurde ihr schon ein bisschen mulmig. Sie stammte aus dem Staat New York und außer vereinzelten Hurrikanen, die in abgeschwächter Form von Süden heraufzogen, gab es nur die winterlichen
Nor’easters
, Stürme, die aus Neuengland herüberbliesen. Aber im Unterschied zu Erdbeben waren diese Stürme, solange man schön zu Hause blieb, nicht lebensgefährlich.
Aber nun stand sie vor einem Dilemma. Einerseits war da das mulmige Gefühl wegen der Autos, andererseits war das Büfett genau darunter aufgebaut. Außerdem sah das Essen fantastisch aus. Und sie hatte plötzlich einen Riesenhunger. Ganz abgesehen davon, dass sie ihr Lebensmittelbudget für die ganze Woche schon Montag gesprengt hatte, weil sie ein bisschen deprimiert gewesen war und sich als Trost zum Mittagessen Dungeness-Krebs gegönnt hatte. Deswegen würde ihr Abendessen zu Hause nur aus Linsensuppe aus der Dose und einem Käsetoast bestehen.
Wenn sie also von den lecker aussehenden, mit Lachs gefüllten Chicoréeblättern kosten wollte oder von den mit Frischkäse gefüllten Kaiserschoten, den Terriyaki-Hähnchenspießen oder – ganz besonders verführerisch – dem
brie en croûte
(sie konnte den Käseschon riechen!), dann musste sie es einfach riskieren. Oder weiter Hunger schieben …
Aber dem
brie en croûte
konnte sie nicht widerstehen.
Ach, was soll’s, man lebt ja sowieso nicht ewig
, dachte sie, und wenn sonst nichts dabei herumkam, hatte sie zumindest gut gegessen. Mutig schritt sie auf das Büfett zu und begann, sich Leckereien auf den Teller zu häufen: jeweils zwei von den köstlichen Käseblätterteigtaschen, Frühlingsrollen und einer Art Spinattörtchen. Sie wollte sich gerade eine Serviette nehmen, da brüllte ihr jemand ins Ohr …
»Sie sind Alix London, habe ich mir sagen lassen.« Eine ausgestreckte Hand tauchte vor ihr auf. »Hallo, ich bin Chris LeMay.«
Alix sah sich um und sah eine kräftige, knochige Frau Ende dreißig in schwarzem Rollkragenpulli und weiter, schwarzer Hose, einen auffallend gelb-schwarz gestreiften Schal um ihren Hals drapiert. Alix hatte sie schon vorher bemerkt, wie sie überschwänglich einige Freunde oder Geschäftspartner begrüßte und einem Mann so kräftig auf den Rücken schlug, dass die Olive, die er sich gerade in den Mund gesteckt hatte, wieder herausgeflogen kam. Sie war Alix nicht nur wegen ihrer lebhaften Art aufgefallen, sondern auch, weil sie die größte Frau im Saal war: an die eins fünfundachtzig, und das in flachen Schuhen. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass es sich bei dieser heiteren und imposanten Erscheinung um die Christine LeMay handeln könnte, nach der sie Ausschau hielt, denn an der Ostküste sahen Kunstsammlerinnen einfach anders aus. Die hungerten sich auf eine erschreckend kleine (manche würden sagen, schicke) Konfektionsgröße zweiunddreißig runter. Von der Sorte hätte man in Chris’ Outfit, Größe sechsundvierzig, mindestens zwei unterbringen können.
Mit ihren eins dreiundsiebzig und den acht Zentimeter hohen Absätzen war Alix nicht gewohnt, zu anderen Frauen aufzuschauen, aber sofern sie nicht auf einen Tisch kletterte, blieb ihr bei Chris nichts anderes übrig.
Sie stellte ihren Teller ab, nahm die ausgestreckte Hand und machte sich auf einen schmerzhaften Händedruck gefasst, aberChris schonte sie. »Ich freue mich so, Sie kennenzulernen, Chris. Und danke, dass Sie mir eine Einladung besorgt haben.«
Chris winkte ab.
»Hmm, was ist das? Egal, es sieht auf jeden Fall köstlich aus.« Ihre Stimme hatte etwas ungewöhnlich Kehliges, Heiseres an sich – böse Zungen
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