Gefährliches Talent: Kriminalroman
bald nur noch eine blasse Erinnerung. Das war ein böser Schock gewesen. Der einzige Trost war – wenn es man überhaupt so nennen konnte –, dass ihre Mutter zwei Jahre zuvor gestorben und ihr der Skandal erspart geblieben war.
Alix stand in Harvard kurz vor dem Abschluss und obwohl die Anwälte die sechzigtausend Dollar, die von dem für ihr Studium zurückgelegten Geld noch übrig waren, nicht antasteten, schmiss sie es trotzdem und ließ das Geld bis auf den letzten Cent für Geoff beiseitelegen, aber unter der Bedingung, dass er nicht erfahren durfte, woher es stammte. (Sie wollte nicht von seiner Dankbarkeit erdrückt werden.) Stattdessen sollte er glauben, es handelte sich um Überreste seines einstigen Vermögens. Ihr Studium aufzugeben war ihr sehr schwergefallen. Aber er war immer noch ihr Vater und er wäre fast siebzig, wenn er aus dem Gefängnis kam, verarmt und sein Ruf ruiniert. Die sechzigtausend plus Zinsen sollten ihm über seine verbleibenden Jahre hinweghelfen. So kam es dann auch. Er hatte damit sein neues Geschäft gegründet.
Sie hatte damals gehofft, vielleicht irgendwann in Harvard weiterstudieren zu können, aber das Leben und die Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatten ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ruckartig schüttelte sie den Kopf. Das lag weit zurück, sagte sie sich jetzt schon zum zweiten Mal. Sie sollte sich eher Gedanken über die Zukunft machen.
Und trotzdem musste sie immer noch an Geoff denken. Er hatte bisher noch nicht die Dreistigkeit besessen, bei ihr aufzutauchen, aber er rief regelmäßig an und störte sich kein bisschen an ihrer frostigen Reaktion oder daran, dass sie nie zurückrief. Offenbar war eine Szene nötig, ein Treffen von Angesicht zu Angesicht, damit er es endlich kapierte. Bei dem Gedanken daran graute es ihr.
Es schien ihm ganz gut zu gehen – oder zumindest tat er so und zwar sehr überzeugend.
Ihre
»Karriere« hingegen und eigentlich auch ihr Leben ließen einiges zu wünschen übrig. Aber Alix war, ganz der Vater, nicht nur eine Überlebenskünstlerin, sondern sie sah auch immer das Positive. Nun, meistens jedenfalls. Schließlich lief es doch ganz gut für sie. Sie wohnte in dieser tollen Eigentumswohnung in Seattle. Signor Santullo, der wunderbare alte Mann, bei dem sie in Europa gelernt hatte, hatte das von Rom aus für sie in die Wege geleitet, schon bevor sie in die Staaten zurückgekehrt war: ein Jahr mietfreies Wohnen, während Katryn in der Provence war, und als Gegenleistung reinigte und restaurierte sie sechs Gemälde aus Katryns eindrucksvoller Sammlung von Spätimpressionisten. Wenn das kein Glück war! Die Arbeit ließ ihr sogar noch genug Zeit für andere Jobs, um ihre wenigen Ausgaben zu bestreiten. Und heute erst hatte sich eine wunderbare neue Chance aufgetan …
Sie richtete sich auf, betrachtete sich ein letztes Mal in dem mannshohen Spiegel, zupfte eine Locke an ihrer Schläfe zurecht, rückte ihren Rockbund gerade und dann war es auch schon Zeit.
Die Show konnte losgehen.
KAPITEL 2
Das Seattle Art Museum oder SAM, wie die Einheimischen es nannten, war einer von Alix’ Lieblingsorten. Da sie keine Stifterin war, war sie auch noch nie bei einem Stifterempfang gewesen, aber sie war Mitglied (sie hatte die billigste Mitgliedschaftsart gewählt), und da das Museum nur einen kurzen Fußweg von der Wohnung entfernt lag, ging sie mehrmals wöchentlich hin, entweder um die Bibliothek zu benutzen oder um glücklich und zufrieden die Sammlungen zu durchstreifen. Nur das große Atrium hätte sie niemals freiwillig betreten, aber leider ließ es sich nicht vermeiden. Sie musste da durch, um die Ausstellungsräume zu erreichen, raste aber immer in Lichtgeschwindigkeit durch, ohne nach links und rechts zu schauen und vor allem nicht nach oben.
Denn wenn man durchs Atrium ging, musste man unter der zweifellos spektakulärsten Installation des Museums durchlaufen. Sie hieß
Inopportune: Stage One,
und obwohl sie nicht ganz verstand, was das bedeuten sollte, fand sie den Titel doch äußerst passend.
Inopportune: Stage One
bestand aus neun Ford Taurus, die kaskadenförmig taumelnd mit beängstigend dünnen Stahlstangen an der Decke befestigt waren, die ihrer Ansicht nach für diesen Zweck vollkommen ungeeignet waren. Die Autos stiegen im BrotmanForum an einem Ende des Atriums in die Höhe und kamen in der Südhalle am anderen Ende wieder herunter. Man hatte den Eindruck, die Autos würden hüpfen,
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