Gefährliches Talent: Kriminalroman
hätten behauptet, sie krächzte –, aber sie klang trotzdem angenehm, so als würde Chris ein Lachen unterdrücken und nur auf eine Gelegenheit warten loszuprusten. »Ich besorge mir einen Teller, lade ihn voll und dann gehen wir irgendwohin, um uns zu unterhalten …« Chris sah hoch zu den aufgehängten Autos. »… Bevor das nächste Erdbeben kommt.«
Alix musste grinsen. Die Frau gefiel ihr jetzt schon. »Ich bin so froh, dass Sie das sagen. Ich dachte, ich wäre die Einzige. Ich bin aus New York. Mit dem Gedanken an Erdbeben habe ich mich noch nicht anfreunden können.«
»Ich möchte den kennenlernen, der sich damit anfreunden kann«, sagte Chris, während sie Appetithäppchen auf ihren Teller stapelte. »Sehen Sie mal, ist das Champagner?« Sie hatte einen Kellner erspäht, der sich seitwärts durch Menschentrauben hindurchschlängelte und dabei sein Tablett mit Sektkelchen hoch in der Luft hielt. Mit Alex im Schlepptau steuerte Chris geradewegs auf ihn zu und nahm sich zwei Gläser. »Setzen wir uns da vorne hin«, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf eine Gruppe kleiner Tische an einer Wand. »Ich glaube, da fallen uns keine Autos auf den Kopf.«
Sie bahnten sich ihren Weg durch die lärmende, immer noch anwachsende Masse größtenteils gut gekleideter Leute, von denen viele Chris offenbar kannten und sie grüßten. Aber der letzte freie Tisch wurde ihnen vor der Nase weggeschnappt.
»Na ja, sieht so aus, als müssten wir die Teller in der Hand halten«, sagte Chris. »Tja, das Leben spielt einem manchmal übel mit, nicht wahr?« Sie fanden eine Marmorfensterbank, die ihnen als Tisch diente, und Chris spießte mit einem Zahnstocher ein Törtchen auf, steckte es in den Mund, verdrehte genussvoll die Augen, nahm einen Schluck Champagner und sah Alix unverwandt an. »Sie sind Geoffrey Londons Tochter, stimmt’s?«
Alix’ Kehle wurde plötzlich staubtrocken. Das war praktisch das Erste, was diese Frau sagte, und worum ging’s? Worum schon? Um ihren Vater. Würde er ewig ein Mühlstein um ihren Hals sein, wohin sie auch ging, wie weit sie Manhattan auch hinter sich ließ? Im Google-Zeitalter, wo Informationen immer und überall verfügbar waren, lautete die Antwort wohl ja.
»Ja, stimmt«, antwortete sie und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie merkte, wie sie automatisch ihre Lippen zusammenpresste und sich ihre Kiefermuskeln verkrampften.
Ihre Gefühle zu verbergen, war nicht gerade ihre Stärke, und Chris war von der plötzlichen Stimmungsänderung verdutzt. »He, habe ich was Falsches gesagt? Ich wollte nur … Ich wollte nur sagen … Also, ich bin nicht gerade berühmt für mein diplomatisches Geschick und ich bin wohl mal wieder ins Fettnäpfchen getreten. Puh …« Sie machte eine Atempause. »Okay, noch mal von vorn. Ich wollte nur sagen, Sie sind zwar irgendwie vorbelastet, aber lassen Sie sich davon nicht aufhalten. Sie sind jetzt im Wilden Westen, Schätzchen, in Seattle, und hier läuft’s anders als im Osten. Familiennamen, Familiengeschichte … so was zählt hier nicht viel. Hier zählen vor allem Ihre Fähigkeiten, nicht wer Ihr Vater ist.« Sie lachte. »Das ist auch gut so, denn bei meiner verkorksten Familie würde ich hier sonst mit einem Tablett auf der Schulter rumlaufen.«
Alix spürte, wie sie rot wurde. »Danke, Chris. Es tut mir leid, es war einfach ein Missverständnis. Ich … Ich glaube, ich bin ein bisschen …«
»Sehen Sie mal«, sagte Chris, »ganz hinten in der Ecke ist ein freier Tisch. Schnappen wir uns den, bevor jemand anderes kommt. Sie gehen direkt zum Tisch und ich halte Ihnen den Rücken frei.«
Andere hatten den gleichen Gedanken, kamen aber nicht an Chris’ stattlicher Figur vorbei, und so erreichten die beiden als Erste den Tisch. »Cheers«, sagte Chris und hob ihr Glas, als sie es sich bequem machten.
»Cheers«, erwiderte Alix und stieß mit ihr an. Aber nach einem Höflichkeitsschluck stellte sie ihr Glas ab. »Hören Sie, Chris, es tut mir wirklich leid, dass ich so …«
Chris winkte ab. »Ach, kommen Sie, Sie müssen sich nicht entschuldigen.«
»Danke, aber … es ist schon seltsam.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist fast neun Jahre her, seit Geoff mein Leben ruiniert hat – und sein eigenes – und seitdem habe ich es ganz allein ziemlich weit gebracht und eigentlich müsste ich doch mittlerweile drüber hinweg sein. Man hat mir geraten, meinen Namen zu ändern, aber das will ich einfach nicht,
Weitere Kostenlose Bücher