Gefallene Engel
sah vorsichtig hinaus.
Vegard Vadheim und Eva Jensen standen draußen, mit entschlossenen Mienen. Zwei Schritte hinter ihnen stand der Wirt, mit einem Schlüsselbund in der Hand.
Ich gab ein Zeichen, zog die Gardine wieder vor, knipste das Licht an und ging hinaus, um ihnen zu öffnen.
Vegard Vadheim warf mir einen vielsagenden Blick zu, und es war keine schöne Rede, die er hielt, während Eva Jensen schon hineinging und gedämpft und freundlich mit Ruth sprach, die längst aufgestanden war.
Als wir hereinkamen, sah sie von einem zum anderen. Dann hob sie die Hände zum Gesicht und sagte: »Ich gestehe alles! Ich hab’ es getan. Alles! Ich habe sie – umgebracht …«
Vegard Vadheim sah mich fragend an.
Ich zuckte mit den Schultern und murmelte: »Sie gesteht alles, aber glaub nicht alles, was sie sagt.«
»Du wirst wohl mit auf die Wache kommen müssen, Veum. Das hier müssen wir, glaube ich, gründlich durchgehen.«
»Hör nicht auf ihn! Er lügt!« rief Ruth Solheim aus und zeigte auf mich.
Vegard Vadheim nickte ihr beruhigend zu. »Das sind wir gewohnt. Wir kennen ihn schon.«
46
Ich verbrachte die Nacht auf der Polizeiwache. Den größten Teil der Zeit lag ich da und wartete, während Vegard Vadheim und Eva Jensen Ruth Solheim verhörten.
Ich durfte auf einem Sofa in einem unbenutzten Raum schlafen und lag da, dösend, verfolgt von unruhigen Träumen.
Gegen Morgen kam Vadheim herein und weckte mich. Ich setzte mich auf, während er schwer im nächsten Stuhl zusammensank. Er sah müde aus, müder als ich ihn je gesehen hatte. Ein Marathonläufer, der ins Ziel einläuft, zum allerletzten Mal.
Er strich sich über das Gesicht, als würde er eine unsichtbare Schicht Spinnengewebe entfernen, seufzte tief und sagte: »Sie bleibt bei dem Geständnis. – Es ist eine erschütternde Tragödie, die dem Ganzen zugrunde liegt. Was auch immer passiert ist … Ich habe ja solche Sachen schon früher gehabt, aber … Ich werde nie aufhören, mich zu wundern, daß – Leute so was tun können, mit ihren eigenen Kindern! Es ist zum Kotzen!«
Ich nickte.
»Aber du glaubst also nicht, daß sie es getan hat?«
»Nein. Das heißt, ich weiß … Das heißt wiederum, du mußt es selbstverständlich selbst untersuchen. Aber nach den Informationen, die ich bekam, als ich in Lindås war, um mit ihr zu reden, war sie da draußen, als Jan Petter Olsen getötet wurde. Den Mord kann sie also nicht begangen haben.«
Er beugte sich vor. »Aber wie du weißt, ist dies auch der einzige Mord – wenn es denn ein Mord war – der an einem Außenstehenden begangen wurde, sozusagen. Der einzige, der nicht zu den Harpers gehörte.«
Ich wollte etwas sagen, aber er unterbrach mich. »Das heißt mit anderen Worten, daß Jan Petter Olsens Tod wirklich ein Arbeitsunfall sein könnte, so wie es die ganze Zeit ausgesehen hat, aber gleichzeitig das Ereignis, das die alte Rachlust in Ruth Solheim wieder zum Leben erweckte. Das sie daran erinnerte, daß sie noch eine Rechnung offen hatte – hier in der Stadt.«
Ich nickte langsam. »So könnte es natürlich sein. Ich glaube nur nicht, daß es so ist.«
Ein Zucken lief über sein Gesicht. »Das Problematische ist, auch wenn sie gesteht, daß diese Morde von einer Art sind, die es so gut wie unmöglich macht, sie zu beweisen. – Sie braucht nicht einmal einen mittelmäßigen Anwalt, damit unsere Behauptungen in einem eventuellen Gerichtsverfahren in kleine Stücke gerissen werden. – Das einzige, wo wir sie vielleicht packen können, ist der Mord am Vater. Johnny Solheim. Der ist immer noch so frisch, daß wir hoffen können, technische Beweise vorlegen zu können. Die anderen …« Er hob resigniert die Arme. »Was soll’s.«
Wir saßen in nachdenklicher Stille da. Wir waren die Trabanten des Todes und Kains Kannibalen. Wir lebten vom Elend und Tod anderer, und unsere Konten waren längst überzogen. Wir würden unseren Lohn in der Hölle abheben und unsere Gratifikationen dort unten empfangen. Im Himmel wußten sie kaum, wie wir hießen.
»Na, und du?« sagte Vadheim schließlich. »Hast du einen anderen Vorschlag? Eine andere Lösung auf Lager?«
Ich schüttelte den Kopf. Noch nicht. Zuerst mußte ich mit jemandem sprechen.
47
Ich schob es, solange ich konnte, hinaus.
Nachdem ich von Vadheim frei bekommen hatte, fuhr ich nach Hause und gönnte mir noch ein paar Stunden Schlaf.
Ich aß ein billiges Mittagessen in einer frischgeputzten Cafeteria, auf dem Weg ins Büro. Dort
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