Gefallene Engel
setzte.
»Setz dich doch auch«, sagte ich.
Sie gehorchte. Sie war es nicht gewohnt, zu protestieren.
Sie hatte etwas Hilfloses und Geducktes an sich, das an einen unterwürfigen kleinen Hund erinnerte.
»Du liest?« wiederholte ich.
Sie nickte. »Das hat mich gerettet.« Sie wandte den Kopf halb herum und wies mit dem Blick auf das Jesusbild. »Ohne Ihn wäre ich jetzt tot.«
»Du bist also immer noch clean?«
Sie nickte.
Ich betrachtete sie. Die Hände waren schuppig und mager, voller Narben entlang der Adern auf dem Handrücken. Das Gesicht war ungeschminkt und fahlblau, als wäre die Haut so dünn geworden, daß das Blut überall durchschien. Ihre Lippen waren voll, und sie hatte immer noch einen trotzigen Zug um die Oberlippe, aber die Augen waren weit, weit weg, auf eine Weise nach innen gewendet, die dir das unangenehme Gefühl gab, daß sie dich ansah, ohne dich überhaupt zu sehen.
Ich versuchte, zu erkennen, wem sie ähnlich war, aber ich fand nichts, was mich an einen der Menschen erinnerte, denen ich in den letzten acht bis zehn Tagen begegnet war. Sie trug dunkelgrau: abgewetzte Jeans, ein grau-weißes Baumwollhemd und eine blauweiß gemusterte Strickjacke. An den Füßen hatte sie dicke, graubraune Stricksocken.
Ihre Hände zitterten, und ihr Blick flackerte. Sie kramte eine zerknitterte Zigarettenpackung aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an, wie um ihre Hände zu beschäftigen und ihren Blick auf etwas zu konzentrieren.
»Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, um – diese Todesfälle, wie gesagt. Ich glaube, du verstehst, warum ich hier bin.«
Sie antwortete nicht, sondern sog den Rauch ein, als hinge ihr Leben davon ab.
»Ich fange jetzt an, das Ganze ziemlich klar zu sehen. Es fehlen nur noch ein paar kleine Teile, dann ist – das Puzzle fertig.«
Sie starrte vor sich hin, als würde sie überhaupt nicht zuhören.
»Harry Kløve«, sagte ich.
Keine Reaktion.
»Arild Hjellestad.«
Sie nahm die Zigarette aus dem Mund, betrachtete sie und steckte sie wieder hinein.
»Dein Vater, Johnny Solheim.«
Ihr Blick streifte meinen kurz.
»Sie starben – alle zusammen – im Laufe der letzten fünfzehn Monate. Und keiner von ihnen starb freiwillig. Alle wurden – ermordet.«
Ich erreichte sie jetzt. Sie hörte zu. Ihr Blick streifte wieder mein Gesicht, verweilte aber bei meinem Mund, aus dem die Worte kamen.
»Es ist nur noch einer übrig auf der Liste, stimmt’s?«
Stille.
»Er bekam den letzten Brief mit den Engelbildern.«
Ein Zittern durchfuhr sie, als würde sie frieren.
»Jakob Aasen«, sagte ich müde.
Sie preßte die Lippen um die Zigarette zusammen und sagte noch immer nichts.
»Die Harpers«, fuhr ich fort. »Die Harfenjungs nannten sie sich auch. – Abgesehen von Jan Petter Olsen, der nur so dabei war, an dem Abend, über den niemand sprechen will. Und gerade deshalb ist dieses Datum so wichtig. – 16. Oktober 1975, stimmt’s?«
Ich beugte mich vor. »Erzähl es jetzt, Ruth! Sprich es einfach alles aus. Es wird dir nur guttun.«
Sie preßte die Zigarette zwischen den Lippen platt, so fest hielt sie den Mund geschlossen.
»Oder willst du, daß ich es tue?«
Ihre Augen sagten gar nichts, wollten überhaupt nichts wissen.
Ich schluckte. »Sie kamen zu dir herein … zu euch. Ins Kinderzimmer. Wer waren sie? Alle auf einmal? Oder einer nach dem anderen? Es waren … Harry Kløve, Arild Hjellestad, Jan Petter Olsen – Jakob Aasen – dein Vater …«
»Er war nicht …!« Die Augen waren weit aufgerissen und sie atmete in tiefen, schluchzenden Zügen.
»Nein. Aber …«
Sie nahm die Zigarette aus dem Mund, hielt sie zwischen zwei Fingern, rollte sie hin und her, während sich ihr Blick daran festhielt.
Sie biß sich auf die Lippen. »Papa … Ich nenne ihn immer noch so, obwohl er nicht … Das war sein Name, verstehst du? – Papa.«
Jetzt war ich an der Reihe, zu schweigen. Ich nickte, ermunternd, verständnisvoll.
»Papa hatte – so was getan … war zu mir reingekommen – seit … schon immer! So lange ich denken kann.«
Ihre Stimme sank bis auf ein Minimum zusammen, und ich mußte mich noch näher beugen, um zu verstehen, was sie sagte.
»Ich war so klein … Zuerst, zuerst dachte ich, es wäre einfach so, daß es allen so ging, den anderen Mädchen in der Straße, allen. Dann begriff ich, daß … besonders. Aber da dachte ich, daß ich es wäre, daß es meine – Schuld wäre, daß es … Also hab’ ich einfach angefangen,
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