Gefallene Engel
las ich kurz die Montagszeitungen, blätterte die Post durch und lauschte der Wochenendbotschaft des Anrufbeantworters: Leere, Stille und verlorene Illusionen.
Es war schon fünf Uhr, bevor ich mich aufraffte, zur Johanneskirche fuhr, vor der alten Sydneshaugen-Schule parkte, die vor zwanzig Jahren gelb angemalt und der Universität Bergen überlassen worden war, und, so langsam ich konnte, zu dem Haus trottete, in dem Jakob Aasen wohnte.
Ich stieg die Treppen zum ersten Stock hinauf, so leicht, als sei ich auf dem Weg zum Schafott, und als ich an der Tür klingelte, drückte ich gerade nur die eine Seite des Klingelknopfes ein, so daß das Signal so halbherzig wurde wie ein unterdrücktes Husten bei einem Kammerkonzert.
Hinter der Tür hörte ich schnelle Kinderschritte, das Schloß wurde geöffnet, mit ein wenig Umstand, und die kleine Grete starrte zu mir hoch, in einer grünen Strumpfhose und einem gelben Pulli, mit hellroten Rosenwangen und zotteligem Haar.
»Hei.«
»Hei! – Erkennst du mich wieder?«
Sie schüttelte den Kopf, unbeteiligt.
Hinter ihr tauchte Jakob auf, aber es war ein anderer Jakob, als ich erwartet hatte. Er hatte etwas Aufgeregtes und Begeistertes an sich, das mich verwunderte, und die Art, wie er lächelte, als er mich hereinbat, gab mir das unbestimmte Gefühl, in eine Falle zu gehen.
Die Tür zum Wohnzimmer stand halb offen und Grete lief hinein. Ich hörte den Ton eines Legosteines, der über den Boden geschossen wurde, begleitet von den Nachrichten im Radio.
»Leg doch ab, Varg«, sagte Jakob. »Komm rein!«
Ich lächelte ihn vorsichtig an. »Ist – etwas passiert?«
Er strahlte weiter und führte mich ins Wohnzimmer.
Rebecca saß in dem großen Ohrensessel mit einem Strickzeug in den Händen, die Beine unter sich gezogen und mit einem Gesichtsausdruck, als wäre sie nie weg gewesen. Auf einem anderen Stuhl saß Maria, mit den Kopfhörern von einem Walkman auf dem Kopf und einer Mädchenzeitschrift auf dem Schoß. Auf dem Boden vor der Mutter baute Grete gerade ein Haus aus Legosteinen.
Rebecca sah auf, als ich hereinkam, und unsere Blicke trafen sich. Ich spürte, wie mein Lächeln erstarrte und zu einer Grimasse wurde, und irgendwo in mir sank etwas, wie wenn man am Rande eines Abgrunds steht und hinuntersieht.
»Hei, Varg«, sagte sie, in einem Tonfall, als sei ich nur ein alter Freund der Familie, der zufällig vorbeischaut.
»Hei«, sagte ich und mußte mich räuspern. Ich sah von ihr zu Jakob. Er sah aus, als hätte er einen Hauptgewinn erzielt, und das hatte er im Grunde ja auch.
»Ich möchte gern ein paar Worte mit dir reden«, sagte ich zu ihm. »Allein.«
Er nickte. »Wir können ins …«
Aber Rebecca unterbrach ihn. »Nein nein, bleibt ihr doch hier. – Ich habe den Kindern versprochen, Weihnachtskekse zu backen, wir können dann in die Küche gehen.«
Grete sprang jubelnd auf, und Maria sah von ihrer Zeitschrift auf, entdeckte mich, errötete kleidsam und nickte vorsichtig.
»Petter kommt auch bald«, sagte Rebecca, legte das Strickzeug zur Seite und stand auf.
Dann strich sie an mir vorbei mit einem alltäglichen Lächeln. Grete lief hinter ihr her, während Maria die Nachhut bildete, in weit bedächtigerem Tempo.
»Machst du die Tür hinter dir zu?« fragte Jakob.
Sie nickte.
Er drehte sich zu mir herum und breitete die Arme aus. »Ist es nicht phantastisch, Varg? Sie ist zurückgekommen! Und diesmal ist es endgültig!«
»Jaja … phantastisch«, murmelte ich.
»Wir haben uns ausgesprochen – über alles!«
Ich sah ihn skeptisch an. »Über – alles? Wirklich?«
»Ja!« Er fing meinen Tonfall auf und kam mit einem winzigen Fragezeichen im Gesicht wieder auf den Boden zurück. »Ja?«
Ich sah mich um. Es war ordentlich geworden. Die Zeitungsstapel waren weg, die Bücher waren an ihren Platz im Bücherregal gestellt, und es roch nach Reinigungsmittel und frischer Luft.
Ich setzte mich auf das Sofa, auf dem ich eine halbe Liebesnacht verbracht hatte.
Jakob nahm auf dem Sessel Platz, von dem Rebecca aufgestanden war, ganz außen am Rand, als rechne er damit, sehr schnell wieder aufstehen zu müssen.
»Ich weiß jetzt alles darüber, was 1975 passiert ist, Jakob. Am 16. Oktober. Alles! Ich habe mit Ruth gesprochen.«
»Ruth … Solheim?«
Ich nickte.
Etwas von der Aufregung fiel von ihm ab, und sein Blick wurde spürbar ernster. Es war etwas Ungelenkes an seinen Bewegungen, als er resigniert die Arme hob, den Blick senkte und sagte:
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