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Gefangen (German Edition)

Gefangen (German Edition)

Titel: Gefangen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sira Rabe
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musste.
    Seine Gedanken drehten sich nur noch um Delia. Geistesabwesend hatte er an dem kurzfristig anberaumten Kanzleimeeting teilgenommen, bei dem ihm seine Mitarbeiter berichteten, welche Fälle sie in den vergangenen Wochen verloren oder gewonnen hatten. Er nahm das verhaltene Kopfschütteln und die fragenden Blicke nicht wahr, die seine Angestellten sich zuwarfen. Ihr Chef wirkte alles andere als erholt, war ungewöhnlich schweigsam, und die höflichen Nachfragen, wie es im Urlaub gewesen wäre und was er gemacht hätte, hatte er ausweichend und unbestimmt beantwortet. Irgendetwas musste passiert sein. Aber keiner traute sich zu fragen was. Kerners dominante Ausstrahlung wirkte auch auf sie einschüchternd.
    Schließlich bedankte sich Lennart bei allen für ihr verantwortungsbewusstes Arbeiten und schickte sie hinaus, ohne die Ergebnisse näher zu kommentieren. Lange Zeit saß er unbeweglich dort, wie gelähmt. Er wusste nicht einmal, ob er noch atmete. Irgendwann fand er sich an seinem Schreibtisch wieder. Er erinnerte sich nicht mehr, wann er aufgestanden war und das Zimmer gewechselt hatte. Noch nie hatte er sich so desorientiert gefühlt. Selbst die Vertrautheit seines Büros hatte Risse bekommen.
    Eigentlich wartete er jetzt nur noch darauf, dass seine Sekretärin hereinkäme, um ihm mitzuteilen, dass die Polizei da wäre und ihn sprechen wolle. Er würde sich nicht herausreden. Eigentlich müsste er überlegen, wem er die Kanzlei übergeben sollte. Wer wäre in der Lage, alles zu retten und die Geschäfte weiter zu führen, wenn bekannt würde, dass ausgerechnet er, der hochgeschätzte Anwalt, eine Straftat begangen hatte. Er hatte Delia unterschätzt. Das war unverzeihlich. Sie war selbstbewusst. Sie war stark. Sie würde ihn anzeigen und er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Er verdiente nichts anderes. Es gab keine Rechtfertigung.
    Stunden vergingen. Jemand klopfte, seine Sekretärin Evelyn schaute herein. Für einen Augenblick beschleunigte sich sein Puls. Es war so weit. Sie kamen, um ihm der Form halber seine Rechte vorzulesen und ihn mitzunehmen! Die nächsten Monate würde er in Untersuchungshaft verbringen. Vielleicht kam er auf Kaution frei. Das würde der Untersuchungsrichter bestimmen. Aber gerade gegenüber Leuten wie ihm, die einen lupenreinen Leumund besaßen und diesen dann von einem Tag auf den anderen befleckten, zeigte man keine Nachsicht. Doch dann fragte ihn Evelyn lediglich, ob er noch etwas bräuchte, ansonsten würde sie jetzt nach Hause gehen. Lennart sank zurück an die hohe Lehne seines Bürostuhls, antwortete mechanisch, dass er ihr einen schönen Abend wünsche, dann war er wieder allein.
    Nach und nach verstummte die Geschäftigkeit in der Kanzlei. Draußen war der Abend hereingebrochen. Es regnete. Er hörte, wie der Regen gegen die Fensterscheiben seines Büros prasselte. Draußen im Vorzimmer sirrte für kurze Zeit das Faxgerät. Allmählich wurde es auch in seinem Zimmer dunkel. Nur der Schein der Straßenlaternen vor seinem Fenster verbreitete gerade so viel Licht, dass die Umrisse der Möbel zu erkennen waren und sich die Bilder von den Wänden abhoben, Fotos seiner Urlaubsreisen nach Mexiko und Argentinien, auf die er besonders stolz war. Steile Berghänge, wilde Landschaften, kleine armselige Dörfer, üppige Kirchenfassaden, Gauchos mit ihren Rinderherden, Indios in bunter Kleidung – eine bunte Mischung aus Reich und Arm, ursprünglichen Flächen und Feldern, die in vollem Korn standen, Natur und Architektur mal im Einklang und mal im Widerspruch, wie die Menschen, die dort lebten.
    Lennart war eingeschlafen. Als er aufwachte, fühlte er sich steif. Offensichtlich war sein Kopf irgendwann nach vorne gesunken. Er rieb sich den schmerzenden Nacken und stand auf, um nach Hause zu fahren und ein paar Stunden zu schlafen.
    Im Laufe des nächsten Tages zwang er sich, die aktuellen Prozessakten zu lesen. Mit der morgendlichen Dusche hatte er die Lethargie abgewaschen, die ihn auf ungewohnte Weise gelähmt hatte. Ab diesem Zeitpunkt stürzte er sich wie ein Besessener in die Arbeit, und es gelang ihm, sich von seinem Schmerz abzulenken. Doch die Abende blieben furchtbar. Er ging hinauf in die Dachkammer, drückte seine Nase in das Kissen, auf dem Delia geschlafen hatte und bildete sich ein, ihren unnachahmlichen Duft einzuatmen.
    Er verstand nicht, warum sie ihn nicht angezeigt hatte, aber er war ihr unendlich dankbar dafür. Von Tag zu Tag glaubte er weniger, dass sie

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