Gefangen im Palazzo der Leidenschaft
einem anderen Wagen zusammengestoßen, doch in seiner stoischen Ruhe achtete er nicht auf die wild gestikulierenden Fahrer.
Es schien ihr, als würde an jeder Straßenecke ein imposantes Museum, eine Statue, ein Brunnen oder eine Krippenszene stehen – wobei es schließlich auch bald Weihnachten war. Viele der Straßencafés waren geöffnet – auch wenn die Kunden Mantel und Schal trugen, um sich warm zu halten.
Kein Wunder, dass Felix sich in diese Stadt verliebt hatte. Und offenbar nicht nur in die Stadt. Vor einigen Wochen hatte er ihr mitgeteilt, dass er sich mit einer jungen Italienerin namens Dee traf, die er ihr so bald wie möglich vorstellen wollte.
Rom war offenbar eine Stadt, in der man sich schnell verliebte …
Verwirrt runzelte Lily die Stirn, als Marco etwa eine halbe Stunde später nicht vor einem Apartmentkomplex hielt, sondern vor einem imposanten Tor aus massivem Holz, das mindestens viereinhalb Meter hoch und in eine Mauer eingelassen war.
Automatisch ging es wieder zu, nachdem er es passiert hatte, wenig später aus dem Wagen stieg und ihr die hintere Tür aufhielt.
Trotz des geschäftigen Lärms in der Stadt war es hinter diesen Mauern seltsam still, wie Lily merkte, als sie in dem schattigen Innenhof ausstieg. Richtiggehend gespenstisch.
Lily zog die Jacke fester um sich und wandte sich an den Chauffeur. „Mi scusi, signor – parla inglese?“
„No“ , antwortete er knapp. Dann trat er an den Kofferraum, um ihr Gepäck herauszunehmen.
Gesprächig ist er nicht gerade, dachte sie bedauernd. Eine große Hilfe war er ihr also nicht.
Ihr wurde bewusst, dass die ganze Aufmerksamkeit, die man ihr am Londoner Flughafen und während des Flugs geschenkt hatte, ihr ein falsches Gefühl der Sicherheit gegeben hatten. Denn tatsächlich hatte sie den Flughafen Leonardo da Vinci mit einem Mann verlassen, den sie eigentlich gar nicht kannte und von dem sie gerade einmal seinen Vornamen wusste. Und nicht Marco hatte Felix erwähnt und den Namen des Grafen, sondern sie selbst. Obendrein hatte er sie zu einem Gebäude gebracht, das aussah, als wäre es einmal ein Palast gewesen. Aber es könnte sich ebenso gut um ein Bordell handeln, wenn auch ein teures und exklusives.
Lily dachte an die Artikel, die sie in den letzten Jahren in verschiedenen Zeitungen gelesen hatte. Es ging darum, dass blonde, blauäugige Frauen lukrativ verkauft wurden. Frauen, die scheinbar spurlos verschwunden waren. Dabei hatte man sie irgendwo eingesperrt, um ihre Körper so lange zu benutzen und zu missbrauchen, bis sie nicht mehr jung genug waren, um die Aufmerksamkeit der reichen Kunden erregen zu können. Entweder entledigte man sich ihrer dann, oder sie wurden in ein anderes Bordell verschleppt, wo die Kunden nicht so wählerisch waren.
Sie war wirklich ein Landei! Man sollte sie nicht allein auf die Straße lassen. Und ihr ganz sicher nicht erlauben, allein nach Rom zu fliegen …
Nun doch ein wenig verängstigt, drehte sie sich zu dem Chauffeur um, der ihren Koffer auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof abstellte. „Signor, ich muss wirklich …“
„Das ist alles, danke, Marco.“
Einen Moment lang war Lily wie erstarrt, und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die raue, autoritäre Stimme hörte. Schließlich drehte sie sich um und sah zu dem Balkon im ersten Stock hoch. Ihr stockte der Atem, als sie den Mann entdeckte, der dort oben im Schatten stand und zu ihnen herunterblickte. Sie konnte seine Züge nicht ausmachen, sah aber selbst aus diesem Abstand, dass er groß war und eine ungezügelte Kraft ausstrahlte.
Handelte es sich vielleicht um den Bordellbesitzer?
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich im Stillen. Natürlich stimmte das nicht, weil dies kein Bordell war. Sicherlich gab es eine vernünftige Erklärung dafür, dass man sie hierher gebracht hatte. Die ihr der Mann oben auf dem Balkon sicher geben konnte, da er in perfektem Englisch gesprochen hatte, das nur einen leichten Akzent verriet.
Lily drehte sich wieder um, weil sie Marco für seine Hilfe danken wollte – und stellte erschrocken fest, dass er bereits im Haus verschwunden war, während sie wie gebannt zum Balkon hochstarrte.
Ob das Absicht gewesen war? Hatte man sie ablenken wollen, damit Marco ungesehen verschwinden konnte und sie dem anderen Mann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war?
Wieder sah sie hoch, diesmal wütend. Verdammt, sie war sechsundzwanzig Jahre alt, britische Staatsbürgerin und
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