Gefangene des Meeres
dies war sein einziges Zeitmaß – kehrten der Arzt und er von einer Untersuchung des Tanks Nummer sechs zurück und erfuhren, daß das dunkelhaarige Mädchen während ihrer Abwesenheit plötzlich zu sich gekommen war und angefangen hatte, Fragen zu stellen. Dickson, der im Dunkeln gelegen hatte, um seine Taschenlampenbatterie zu schonen, war so erschrocken, daß er Lampe und Schraubenschlüssel verloren hatte. Da er den Arzt nicht hatte herbeisignalisieren können, mußte er auf die ängstlichen Fragen des Mädchens, das noch an den Schmerzen der Brandwunden litt und nun auf einmal in der kalten Dunkelheit eines sinkenden Schiffes erwacht war, möglichst beruhigende Antworten geben.
Aber Dickson hatte sich dieser Aufgabe mit Geschick entledigt.
Wie er das Gespräch dem Arzt und Wallis wiederholte, wurde deutlich, daß er dem Mädchen eine durchaus zutreffende Schilderung ihrer Situation gegeben hatte, daß er die Wahrheit aber so optimistisch gefärbt hatte, bis sie kaum noch wiederzuerkennen war. Wallis verstand die Beweggründe, obwohl er sie nicht uneingeschränkt billigen konnte. Das Mädchen mußte den Eindruck gewonnen haben, ihre gegenwärtige Lage sei mehr lächerlich als gefährlich.
»Sie sagt, sie sei in der Radiostation beschäftigt gewesen und ihr Name sei Wellman. Ihren Vornamen habe ich noch nicht herausbringen können.« Dickson lächelte verlegen. »Ich bin ein langsamer Arbeiter, wissen Sie, und ein bißchen scheu mit Mädchen. Würden Sie mich mal anleuchten, damit sie sehen kann, wie jugendlich und stattlich ich bin?«
Das Mädchen drehte den Kopf zu Dicksons Bahre und blinzelte ins Licht der Laterne. »Irgendwie«, sagte sie mühsam, »hatte ich Sie mir nicht kahlköpfig vorgestellt.«
»Das sind meine Bandagen, Miß«, erwiderte Dickson. »Und Sie dürfen mich nicht zum Lachen bringen. Innere Verletzungen, verstehen Sie?«
»Oh, das tut mir leid«, sagte sie. »Mein Vorname ist Jennifer. Freunde nennen mich Jenny.«
»Meiner ist Adrian«, sagte Dickson. »Aus diesem Grund lasse ich mich am liebsten ›He, du‹ nennen.«
Im folgenden Gespräch erfuhren die Männer mehr über die beiden Schiffbrüchigen. Das blonde Mädchen hieß Margaret Murray. Sie hatten zusammen im Nachrichtendienst gearbeitet und waren unterwegs nach England, um dort an einem Ausbildungskurs für Bordfunker teilzunehmen.
Das war der einzige Hinweis auf die Zukunft, den sie machte, und von der Gegenwart und der Vergangenheit sprach sie noch weniger.
Nach einer unruhigen und kalten »Nacht« nahmen sie ihr übliches kaltes Frühstück zu sich und versorgten die Patienten. Wallis ging zu Jenny Wellmans Bett, erklärte ihr die Funktionen der Taschenlampe und des Schraubenschlüssels und setzte hinzu, daß er ihr Dickson für eine Weile entführen werde. Einige Minuten später, nachdem sie Dickson mit seiner Bahre in Tank sieben getragen hatten, sagte Wallis ernst: »Gestern abend, bevor ich einschlief, hatte ich eine Idee, aber ich konnte sie in Miß Wellmans Gegenwart nicht aussprechen, ohne …«
»Ich verstehe«, unterbrach Dickson, ebenso ernst wie er. »Es war ein Thema, über das man in Anwesenheit von Damen lieber nicht …«
»Dickson!« sagte Radford scharf. Er atmete mehrere Male hörbar durch die Nase, sagte aber nichts mehr.
»Es geht um eine Sache, die wir ernst nehmen sollten«, fuhr Wallis geduldig fort. »Sie müssen beide gemerkt haben, daß wir sinken. Sehr langsam zwar, denn der Rumpf läßt noch kein besorgniserregendes Ansteigen des Wasserdrucks erkennen, aber die Bewegungen des Seegangs dringen nicht mehr bis zu uns herunter. Unsere Lage ist die eines überdimensionierten Unterseebootes, das mit ausgefallenen Maschinen langsam sinkt. Wir müssen die Schwimmfähigkeit auf irgendeine Weise verbessern, bevor wir eine Tiefe erreichen, aus der es kein Zurück mehr gibt.«
Der Arzt beobachtete Wallis schweigend. Dickson ließ den Lichtkegel der Notlaterne im Raum umherwandern, aber auch er gab keinen Kommentar.
»Wir haben keine Möglichkeit, das Schiff durch Abwerfen von Ladung oder anderem Ballast zu erleichtern«, resümierte Wallis. »Der Wasserdruck von oben wird uns langsam immer tiefer hinunterzwingen, ob unsere Tanks wasserdicht bleiben oder nicht. Ich habe von U-Booten gehört, denen so etwas passiert ist, als sie zu tief tauchten. Sie kamen nicht wieder hoch, obwohl sie nicht leckgeschlagen waren und ihnen mechanisch nichts fehlte; sie sanken weiter ab, bis der Druck von außen ihre
Weitere Kostenlose Bücher