Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
sie jetzt keinen mehr finden; sie stand auf, die dunkelrote Pyjamahose und das schwarze T-Shirt waren wohl eine ausreichende Bekleidung, falls Dorian noch wach sein sollte. Die Hand schon auf der Türklinke, überlegte sie, ob sie das Risiko eingehen sollte, mit ihm zu sprechen.
Er würde sie wieder feige nennen.
Sie hielt ihr Verhalten für Vorsicht.
Denn Dorian riss große Löcher in ihre Rüstung, ließ sie alles infrage stellen, selbst ihre Entscheidung, sich von Keenan fernzuhalten. Ihre Hand schloss sich fester um die Klinke. Dorian verstand nichts. Alles, was sie seit Keenans Empfängnis getan hatte, hatte nur dazu dienen sollen, ihn in Sicherheit zu bringen.
Erde in ihrer Kehle, Kies zwischen den Zähnen.
Sie schüttelte die Erinnerung ab und öffnete die Tür. Niemand war im Wohnzimmer der sicheren Unterkunft, aber eine Wandlampe brannte. Es war hell genug, um die Küchenzeile zu finden. Dort nutzte sie nicht die Anlage, die auf Stimmen reagierte, sondern schaltete per Hand das Licht an. Es war schon fünf Uhr morgens, und sie wollte frühstücken.
Mediale ernährten sich gewöhnlich mit Energieriegeln, und Ashaya fand das in Ordnung – diese Nahrung stellte dem Körper alles zur Verfügung, was er brauchte. Dennoch war sie durchaus in der Lage, ein konventionelles Frühstück zuzubereiten. Sie fand Milch, eine noch geschlossene Packung Weizenflocken und eine Banane.
Als alles fertig war, stellte sie sich an den Tresen und aß mit maßvollen Bissen. Der Geschmackssinn konnte nicht weggezüchtet werden, aber man hatte ihr ganzes Volk dazu gebracht, ihn als etwas Gefährliches anzusehen. Den Geschmack einer Sache einer anderen vorzuziehen war heikel und konnte leicht auch in anderen Lebensbereichen zu Empfindsamkeit führen. Ashaya wusste, dass ihre Konditionierung an einem dünnen Faden hing, und aß bewusst, ohne auf den Geschmack zu achten.
Amara schlief, das spürte Ashaya. So hatte sie die Möglichkeit, die Risse in ihren Schilden zu flicken, die ihrer Zwillingsschwester gestattet hatten sie zu finden. Ashaya füllte ihren Geist mit ihr wohlbekannten Mustern – den spiralförmigen Strängen der DNA, auf denen die Proteine wie Juwelen auf Bronzedraht glitzerten. Weißes Rauschen. Ein Schild.
Ein Versteck vor Amara.
Ein Schutz für Amara.
In fünf Minuten hatte sie fertig gegessen, dann erst fiel ihr auf, dass ihr verletztes Bein sich nicht ein einziges Mal gemeldet hatte. Großartig. Das Aufräumen nahm weitere drei Minuten in Anspruch. Sie ging nicht zurück in ihr Schlafzimmer, sondern begab sich zu den Türen im Wohnzimmer, die auf einen kleinen Balkon führten, von dem aus man auf die Bucht sehen konnte – die Scheiben bestanden aus klarem Glas, und durch die Eisenstreben des Balkongeländers sah man rechteckige Ausschnitte von Strand und Wasser. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich, richtete sich gerade auf und sah auf die dunklen Wellen in der Ferne.
Hier war es kühl, als wäre die kalte Luft von draußen in das warme Zimmer eingedrungen. Sie gab dem Bedürfnis nicht nach, die Glasscheiben zu berühren, sondern richtete ihre Sinne nach innen, auf ihren Geist. Dort fühlte sie sich am ehesten frei. Wer oder wie sie in ihrem Körper war, wusste sie nicht so genau – er hatte nie richtig zu ihr gehört. Diese Spaltung war nicht gesund, das war ihr klar. Aber es war eine Bewältigungsstrategie. Nach diesem schrecklichen siebzehnten Geburtstag hatte sie etwas gebraucht, das ihren Verstand beisammenhielt.
Dorian bedrohte diese künstliche Trennung. Sie wollte gar nicht wissen, was passieren würde, wenn sie versuchte, die beiden Teile wieder miteinander zu verbinden. Das waren gefährliche Gedanken. Ashaya schob sie weit von sich und konzentrierte sich auf das weiße Rauschen der DNA … und hinter diesem geistigen Schild auf die tödlichen Geheimnisse, die sie schon so lange mit sich herumtrug, dass sie sich in ihre Zellen gebrannt hatten.
In der Sendung hatte sie eine Reihe von Lügen erzählt.
Doch diese Lügen verbargen nur eine viel gefährlichere Wahrheit, die Ashaya bis zu ihrem Tod bewahren wollte. Und nun hatte Ming den Preis für dieses Schweigen hochgetrieben, und ihr ursprünglicher Plan, an die Öffentlichkeit zu gehen, um damit die Wahrheit zu verschleiern und von ihr abzulenken, war nun nicht mehr zu gebrauchen.
Es war ein einfacher Plan gewesen – sie wollte so sichtbar werden, dass weder ihr Tod noch der ihres Sohnes unter den Teppich gekehrt werden
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