Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
dieser Sendung provoziert hätte, wäre Ekaterina noch am Leben. Ashaya verstand nur nicht, warum Ming unterschiedslos alle getötet hatte. Er kannte sie doch nur als perfekte Mediale, ohne jenen emotionalen Defekt, der sie um ihre toten Kollegen trauern lassen würde. Wollte er ihr damit vielleicht nur eine Nachricht zukommen lassen? Handelte er dermaßen kalt und überlegt?
Ja, dachte sie, und ihr fiel ein, was er damals zu ihr gesagt hatte.
Sie sind zu wichtig. Ich würde Sie nie einfach nur töten.
Nein, er würde sie erst foltern und dann ihren Willen brechen. Selbst wenn er dafür jeden umbringen musste, der ihr beistand.
Keine Überlebenden.
Falsch, dachte sie grimmig. Es gab Überlebende – Wissenschaftler von außen, die sich wegen des Implantats auf ihre Seite gestellt hatten. Sie hatten sich auch vergewissert, dass ihre Nachricht über Keenan Talin McKade erreichte – Zie Zen hätte sie vielleicht doch zurückgehalten. Soweit Ashaya wusste, kannten nur sie und Zie Zen die Namen dieser mutigen Männer und Frauen. Zie Zen würde man niemals der Rebellion verdächtigen. Blieb also nur Ashaya. Sie durfte Ming nicht in die Fänge geraten. Denn wenn er in ihr Bewusstsein eindrang, würden noch mehr Leute sterben.
Noch mehr Blut würde an ihren Händen kleben.
Ach, Ashaya, du warst sehr, sehr ungezogen.
Sie werden Ihrem Sohn eine Mutter sein müssen.
Ashaya rollte sich wie ein Embryo zusammen, versuchte sich einzureden, dass sie nur nachdachte und die nächsten Schritte plante. Aber sie konnte diese Lüge nicht schlucken. Die Vergangenheit holte sie ein, Risse zeigten sich in den zerbrechlichen Schilden von Silentium, mit denen sie ihren Geist umgeben hatte.
Bei unserer ersten Begegnung dachte ich, Ihr verdammtes Herz sei aus Eis, aber ich habe Sie nie für feige gehalten.
Dorian hatte recht. Sie war ein Feigling. Sich von ihrem Sohn fernzuhalten, wenn sie ihm mit einer einzigen Kugel die schlimmste Bestie auf Erden vom Leib halten konnte. Wenn Amara nicht mehr da war, musste Keenan die fürchterliche Wahrheit nicht einmal erfahren. Ashaya brauchte nur in zwei Augen zu blicken, die genauso aussahen wie die eigenen, in ein Gesicht, das sie zu lieben geschworen hatte, in einen Geist, der mit ihrem schon im Mutterleib verbunden gewesen war, und den Abzug zu drücken.
Ihr Magen revoltierte.
Sie widerstand dem Bedürfnis, sich zu übergeben, und gab sich der kühlen Betrachtung ihrer DNA-Strukturen hin, befahl sich selbst einzuschlafen. Nichts passierte. Jedenfalls nicht sofort. Quälende Minuten, vielleicht sogar Stunden lag sie wach. Als die Erschöpfung sie schließlich übermannte, kehrte sie zu dem Augenblick in ihrem Leben zurück, den sie am meisten von allen vergessen wollte … der aber pünktlich jede Nacht wieder auftauchte.
Sie befand sich in einem Loch, Erde umgab sie.
Ein Grab, flüsterte es in ihr.
Wie schon einmal.
Nein, sagte sie sich und griff nach Silentium. Sie war siebzehn, hatte gerade das Programm abgeschlossen und die Ausbildung in ihren besonderen Fähigkeiten mit Auszeichnung bestanden. Der Rat wollte ihr einen Ausbildungsplatz in einem seiner besten Labore anbieten. Sie würde annehmen. Sie konnte nicht in einem Grab sein. Über ihr war Holz – Bretter, da oben waren Bretter.
Na also, kein Grab. Aber die Luft war schwer und dumpf, sie bekam kaum Luft.
„Amara“, sagte sie und bat um Hilfe, um eine Erklärung.
Die einzige Antwort war das Geräusch von auf Holz prasselndem Sand und Steinen. Erde rieselte zwischen den Brettern hindurch. Ein Stück Holz fiel herunter und quetschte ihr Bein ein. Sie bemerkte es nicht, ihre Ruhestätte wurde mit Erde zugeschüttet, niemand würde sie hören. Sie hätte ins Medialnet gehen können und dort um Hilfe rufen.
Aber das konnte sie nicht. Denn als ihr klar wurde, dass sie wieder begraben war, zerriss etwas in ihr. Sie verlor ihr menschliches Wesen, ihren Verstand, in ihr tobte nur noch das reine Chaos. Sie schrie, bis ihr Hals ganz wund war, ihre Hände blutig und ihre Wangen tränenüberströmt.
Sie schrie, bis Amara beschloss, sie wieder auszugraben.
Ashaya erwachte aufs Äußerste angespannt, gab aber keinen Laut von sich. Es ging nicht anders. Wenn sie im Labor schreiend aufgewacht wäre, hätte sie andere auf ihren anormalen Zustand aufmerksam gemacht. Und Ashaya hatte nicht im Zentrum landen wollen, wo ihre Persönlichkeit ausgelöscht worden wäre und man sie auf den Zustand einer Debilen reduziert hätte.
Schlaf würde
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