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Gefrorene Seelen

Gefrorene Seelen

Titel: Gefrorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Wärme durchflutete ihn wie ein wohliger Schauer.
    Eine Dreiviertelstunde später verdunkelte sich der Himmel, und die Konturen der Hügel verschwammen. Ein Ruf erscholl, dann tauchte das Heck von Frasers Wagen aus dem See auf.
    Nach und nach erschien auch die übrige Karosserie, aus der an Tür- und Fensterfugen schlammiges Wasser strömte. Die Arbeiter zogen an weiteren Seilen, die die Taucher an der Karosserie befestigt hatten, und bemühten sich, den Wagen in eine stabile Lage zu bringen.
    Dann begann die Winde auf dem Zwölftonner langsam das Stahlseil einzuziehen.
    Die Helmlampen der Taucher schienen nun hell wie Scheinwerfer, und jemand machte ihnen ein Zeichen, sie auszuschalten. Die Männer arbeiteten jetzt unter Flutlicht, die Scheinwerfer schwankten an kleinen Stahlgestellen. Plötzlich kippte der Wagen auf eine Seite, und Eric Frasers Leiche rutschte halb durch die offene Fahrertür. Aus einem schwarzen Ärmel triefte Wasser.
    »Verdammt«, sagte Jerry Commanda. »Beinahe wäre er wieder in die Suppe gefallen.«
    Unter dem Quietschen der Winde wurde der Wagen langsam über das Eis ans Ufer gezogen. Cardinal erinnerte sich an jene erste Nacht, als Delorme ihn angerufen hatte und sie gemeinsam wie Entdeckungsreisende über das Eis gefahren waren, um sich die gefrorenen Überreste des Mädchens anzusehen. Was auf demEis begonnen hatte, dachte Cardinal, endete jetzt auch auf dem Eis.
    Man zog die Leiche aus dem Wagen und legte sie wie einen Fisch auf die Kaimauer. Die Haut war grau mit Ausnahme der vorspringenden Stellen – Stirn, Kiefer und Nase –, wo sie unglaublich weiß schimmerte. Ein Gerichtsmediziner untersuchte sie – diesmal nicht Dr. Barnhouse, sondern ein jüngerer Mann, mit dem Cardinal bisher noch nicht zu tun gehabt hatte. Anders als der polternde Barnhouse ging dieser still und gelassen seiner Arbeit nach.
    Cardinal hatte immer geglaubt, er würde über Eric Frasers Leiche irgendetwas Bedeutsames zu sagen haben, denn dieses Bild hatte er sich mehr als einmal vorgestellt. Doch nun, beim Anblick dieses schmächtigen, bezwungenen Körpers, stellte Cardinal fest, dass er gar nichts zu sagen hatte. Was er fühlen sollte, wusste er, nämlich dass die Bestie noch gut davongekommen war. Er sollte sich wünschen, dieses Ungeheuer wäre noch am Leben und könnte zur Rechenschaft gezogen werden. Doch alles an der Leiche – die blasse Haut, die schmächtigen Gelenke – bewies, dass es nur ein Mensch und kein Ungeheuer gewesen war. Cardinals Gefühle waren eine konfuse Mischung aus Mitleid und Schrecken.
    Lange Zeit sagte niemand etwas, bis schließlich Lise Delorme auf den Punkt brachte, was alle dachten. »Mein Gott«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, »mein Gott, wie klein und schmächtig er ist.«
    Dann sagte der Gerichtsmediziner, man könne die Leiche jetzt fortbringen.
    Cardinal wandte sich ab und sah jenseits der Bucht die ersten Autoscheinwerfer aufleuchten. Die abendliche Hauptverkehrszeit würde bald anbrechen. Gott sei Dank hatten sie die Arbeit hier ohne viele Schaulustige hinter sich bringen können. Ein oder zwei Neugierige sind immer dabei, ganz gleich, wie man es auch anstellt. Als er von Eric Frasers Leiche wieder zurück zum Wagenging, überraschte es ihn daher nicht, eine einsame Gestalt – eine kleine, unscheinbare Frau – am Straßenrand stehen zu sehen, die das Treiben unten am See beobachtete und ein Taschentuch in der behandschuhten Hand hielt, so als ob sie trauerte.

58
    C ardinal hatte so lange nur den Fall Pine-Curry im Kopf gehabt, dass es ihm schwerfiel, nun an etwas anderes zu denken. Die Stunden lasteten schwer. Der Gedanke an die Zukunft bedrückte ihn und bereitete ihm Sorge. Einerseits wollte er mit Catherine sprechen, andererseits fürchtete er sich davor – jedenfalls solange sie nicht aus dem Krankenhaus entlassen und wieder zu Hause war.
    Im Laufe des Nachmittags hatte er eine gesprungene Fensterscheibe ausgetauscht, den Kühlschrank abgetaut, die Wäsche gewaschen und außerdem die Warmwasserleitung repariert. Nun war er in der Garage und machte sich an dem Loch zu schaffen, durch das die Waschbären an seinen Abfall gelangten. Er hatte ein Stück Sperrholz passend zugeschnitten und war dabei, das verfaulte alte Brett zu ersetzen.
    An ihm nagte die Angst. Der Chef war zu einer Versammlung nach Toronto gefahren, aber ohne Zweifel würde er bald von sich hören lassen. Cardinal war sich bewusst, dass er solche Heimwerkerarbeiten nur suchte, um nicht in

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