Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Schröder hatte sein Nein in Goslar angekündigt, aber wenn es schiefgelaufen wäre, wären wir im Sicherheitsrat womöglich mit Syrien allein geblieben, und das wäre mit mir nicht zu machen gewesen.
STERN So wie man in der Libyen-Frage allein war mit den Russen und den Chinesen.
FISCHER Ja. Und daraus noch eine neue Strategie ableiten wollte, dass neue Kraftzentren in der Welt eben neue Bündnisse notwendig machten, das muss man sich mal vorstellen.
STERN Man kann nur den Kopf schütteln.
FISCHER Und Deutschland wieder auf eigenständiger Weltpolitik unterwegs. Halleluja!
STERN Mit diesem Seufzer sollten wir das Buch nicht enden lassen, Joschka.
FISCHER Was schlagen Sie vor?
STERN Ich plädiere für Chancengleichheit.
FISCHER Wie meinen Sie das, Fritz?
STERN Am Ende des vorigen Kapitels haben wir uns über die Präsidentschaftswahlen in den USA unterhalten. Ich habe gesagt, es steht 50:50. Wenn das Buch erscheint, wissen wir, wie es ausgegangen ist. Jetzt sollten Sie sagen, was Sie sich von den Bundestagswahlen im Herbst erhoffen. Sie brauchen keine Prognose abzugeben, nicht einmal eine Wahlempfehlung. Aber Sie sollten sagen, was Sie sich für Deutschland wünschen. Was Sie sich für Europa wünschen.
FISCHER Anders als in den USA ist der Unterschied zwischen den beiden großen Lagern hier zu Lande in der Sache nicht sehr groß. Die Bundestagswahlen werden keine Grundsatzentscheidung über zwei unterschiedliche Gesellschaftsmodelle sein – und das finde ich gut. Wie sie ausgehen werden, kann man gegenwärtig kaum sagen, dazu ist es zu früh. Wechselstimmung existiert noch keine, aber das parlamentarische Koalitionssystem steckt voller Überraschungen. Wen ich wählen werde, ist ja nicht besonders schwer zu erraten. Aber für Deutschland ist Europa und seine Zukunft die Schicksalsfrage. Der Status quo ist nicht haltbar, entweder gehen wir voran bei der politischen Integration, oder wir fallen zurück in die Renationalisierung – und das heißt Zerfall Europas. Für mich ein Albtraum! Also wünsche ich mir vor allem eine Stärkung der europäischen Berufung Deutschlands durch die Bundestagswahlen, denn von uns wird viel abhängen.
Postskriptum, 15. Dezember 2012
FISCHER Lieber Fritz, die US-Wahlen liegen nun fünf Wochen zurück, und wir sind wohl beide erleichtert über ihren Ausgang. Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Botschaft, die uns die amerikanischen Wähler mitgegeben haben?
STERN Das Wahlergebnis hat mich in der Tat unendlich erleichtert. Aber beinah 64 Millionen Stimmen für Obama – und nur eine Botschaft? Spontan dachte ich an einen Spruch von Abraham Lincoln: «Man kann alle Leute einige Zeit zum Narren halten und einige Leute allezeit; aber alle Leute allezeit zum Narren halten kann man nicht.» Das amerikanische Volk hat sich mehrheitlich dagegen entschieden, sich von der Wahlpropaganda der republikanischen Rechten zum Narren halten zu lassen. Das Wahlergebnis ist eine klare Absage an den fortgesetzten Abbau des New Deal, eine Absage an eine geldgesteuerte, ungerechte Wirtschaftspolitik, ein Votum für die Anerkennung von Minderheiten und der Rechte von Frauen. Darüber freue ich mich. Die Tea Party hat einen großen Rückschlag erlitten, und die Republikaner müssen jetzt aus ihrer Niederlage lernen. Sie können die Schuld nicht allein auf Romney als schlechten Kandidaten schieben. Sie müssen vernünftigere Kandidaten für den Kongress aufstellen und sich endlich einem modernen Amerika stellen. Aber der Kulturkampf zwischen – grob gesagt – der Moderne, das heißt ganz besonders der Wissenschaft, und dem religiösen Fundamentalismus geht weiter. Die Sanierung der republikanischen Partei, die ja unentbehrlich ist, wird ein schwieriger Prozess. Und wenn es nicht bald gelingt, die Partei auch nur ein bisschen in Richtung Vernunft zu leiten, dann wird das ganze System beschädigt. Gibt es so etwas wie einen Bazillus zur Selbstzerstörung, der in der ganzen Welt Unheil anrichtet?
FISCHER Ich stimme dem im Wesentlichen zu. Bei den Präsidentschaftswahlen hat sich eine neue Mehrheit gezeigt, welche die USA transformieren wird, auch die republikanische Partei. Da zeigen sich Veränderungen, die sehr tief gehen können. Was die nächsten vier Jahre angeht, werden für Obama die Wirtschaft, der Nahe Osten und China im Zentrum seiner zweiten Amtszeit stehen.
STERN Was Israel anlangt, war es schwer
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